Traumfrau (German Edition)
hatte gute Venen an den Beinen. Die konnte man ins Herz einsetzen, um ihn für viele Jahre zu einem aktiven Menschen zu machen. Aber im Moment war sein Blut zu dick, floss zu schwerfällig durch seine Adern. Er brauchte sein Glyzerin und Flüssigkeit. Außerdem die blutverdünnenden Tabletten. Wieder versuchte er es:
„Mary! M... M...”
Geht es jetzt mit mir zu Ende? Verdammt noch mal, soll das alles gewesen sein? Ausgerechnet jetzt? Warum konnte es mich nicht vor ein paar Tagen erwischen? Warum jetzt, wo ich so sehr leben will?
Günther Ichtenhagen schloss die Augen und versuchte, sich auf ein stilles Gebet einzustimmen. Über ihm ächzte der Lattenrost von Marys Bett, als Hermann Segler seinen massigen Körper darauf fallen ließ.
Günther Ichtenhagen biss die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste unter der Bettdecke und versuchte, ruhig zu bleiben. Mit einer großen, aber sinnlosen Kraftanstrengung streckte er seinen Körper und wollte schreien. Aber nicht einmal ein Seufzer kam über seine Lippen. Sekunden später packte ihn ein so heftiger Schüttelfrost, dass er die Zähne aufeinanderschlagen hörte. Und dann hörte er nichts mehr. Nicht einmal das Klopfen des eigenen Herzens, nicht das Rauschen seines Blutes, nicht das Knistern des Kopfkissens. Gar nichts. Er versuchte, sich ganz auf seine Ohren zu konzentrieren, in der Hoffnung, so das Geschehen über ihm nachvollziehen zu können, aber es schien völlige Stille zu herrschen.
Bin ich vielleicht schon tot?, dachte er. Ist es das? Bin ich gerade gestorben? Liegt jetzt hier mein lebloser Körper? Und der Geist weigert sich nur, ihn schon zu verlassen?
36
Die kleinen Einschnitte an seinem Oberarm waren inzwischen zu einer blutigen, eitrigen Wunde geworden. Hermann Segler knibbelte daran. Schälte sich die Haut vom Körper. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer die gleichen Sätze hämmerten durch sein Gehirn die immer gleichen Schlussfolgerungen:
Sie ist stumm. Aber sie wird es allen erzählen.
Sie werden dich auslachen.
Erst hinter vorgehaltener Hand – dann in aller Öffentlichkeit.
Er war endgültig besiegt. Lebendig begraben. Sie war vor seinen Augen zu einer leblosen Puppe geworden. Ihr Körper signalisierte ihm: Mach mit mir, was du willst, ich werde keinen Widerstand leisten, ich werde es nicht einmal zur Kenntnis nehmen.
Wenn sie Zuneigung gezeigt hätte, oder wenigstens Angst ... Aber so ... Sie hatte sein schlaffes, runzliges Glied nicht einmal angesehen.
37
Doktor Jostich zog eine zweite Spritze auf, musterte Günther Ichtenhagen mit seinen lebhaften Augen kritisch durch die halbhohe Lesebrille und nahm keinen der Einwände ernst:
„Im Alter wirst du noch kindisch. Kaum bist du dem Tod von der Schippe gehüpft, schon spielst du den starken Mann. Dreh dich um, ich muss dich noch einmal stechen.”
Während er eine Stelle an Günther Ichtenhagens Gesäß mit einem alkoholisierten Wattebausch auf die Nadelspitze vorbereitete, redete er ruhig, aber bestimmt weiter. „Sei froh, dass du noch in der Lage warst, mich anzurufen. In deinem Alter sollte man überhaupt nicht mehr allein wohnen. Du hättest genauso gut auf der Treppe zusammenbrechen können und was dann? Vielleicht hätten wir dich erst in zwei Wochen gefunden. Jetzt sei vernünftig. Der Krankenwagen wird in einer Viertelstunde hier sein. Bleib liegen, ich pack dir die nötigen Sachen zusammen.”
Günther lchtenhagen zuckte unter dem Einstich der Nadel zusammen und musste sich von seinem alten Hausarzt Dr. Jostich sagen lassen: „Stell dich nicht so an!”
Wie sollte er ihm nur erklären, warum er das Haus nicht verlassen durfte? Konnte er ihn einweihen? Würde Jostich ihn vielleicht gar auslachen?
„Glaub mir, Jostich, heute geht es nicht. Ich fühl mich schon viel besser. In zwei, drei Tagen gehe ich ins Krankenhaus. Ganz bestimmt. Aber ich muss erst noch ein paar Sachen erledigen…”
„Ach was”, unterbrach Dr. Jostich, „du musst überhaupt nichts erledigen. Ich kann Kati für dich anrufen. Sie bringt dann mit, was dir noch fehlt. Ein bisschen Glück und du bist in vierzehn Tagen schon wieder draußen. Heutzutage geht so etwas schnell.”
Günther lchtenhagen wollte aufstehen. Er setzte sich auf die Bettkante, stützte sich mit beiden Armen ab und versuchte, tief Luft holend, hochzukommen. Dr. Jostichs Hilfe lehnte er kopfschüttelnd ab. Er wollte seinem alten Freund zeigen, wie gut es ihm bereits wieder ging. Noch war er entschlossen, sich nicht
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