Traumfrau (German Edition)
Nacken.
Er wusste, dass er einen Arzt rufen musste. Es war Wahnsinn, hier so zu liegen. Er gehörte in ein Krankenhaus. Marys Nähe gab ihm eine gewisse Sicherheit, lähmte ihn aber auch gleichzeitig. Natürlich hätte sie ihm sofort das Telefon gebracht. Aber konnte er sie hier allein lassen? Allein mit seinen besten Freunden? Oh nein, nicht nach dem heutigen Abend. Er konnte das Haus nicht ohne sie verlassen. Sie waren jetzt aneinander gekettet. Sie brauchte ihn. Er konnte nicht einfach für ein paar Wochen ins Krankenhaus gehen und sich der Operation unterziehen. Er musste hier bleiben und diese Frau beschützen.
Er fühlte sich bei dem Gedanken überhaupt nicht elend, sondern heldenhaft. So lagen Märtyrer darnieder. Eine unangebrachte Heiterkeit hellte sein Gesicht auf. Mary nahm das kalte Handtuch von seiner Stirn, weil ein Schüttelfrost ihn erzittern ließ. Sie kniete sich ans Fußende des Bettes und begann erneut, seine Fußsohlen zu massieren. Mit einem fast schelmischen Grinsen schlief er ein.
34
Hermann Segler verließ die Metzgerei in der Kreisstadt heute zwei Stunden früher als üblich. Sein Chef verlangte nicht einmal eine Rechtfertigung, er nickte nur zustimmend als Hermann brummte: „Hab noch was zu tun, muss jetzt gehen.”
Hermann Segler galt als maulfaul. Sein Chef fürchtete, Hermann könne die Meisterprüfung ablegen und ihm dann Konkurrenz machen. Diese Angst war völlig unbegründet. Hermann Segler fürchtete die Selbständigkeit. Der Lebensmittelladen seiner Frau war ihm ein abschreckendes Beispiel. Jeder regelmäßige Monatslohn, und sei er noch so gering, war ihm lieber.
Er fuhr nicht nach Ichtenhagen hinein, sondern parkte den Wagen zwei Kilometer vom Dorf entfernt, am oberen Lauf der Ichte bei den Forellenteichen des Anglervereins. Er ging zu Fuß an der Ichte entlang, um am Waldweg direkt neben Günther Ichtenhagens Haus herauszukommen. Die Gefahr, gesehen zu werden, bestand im Dorf immer. Dieser Weg war relativ sicher. Wenn er Pech hatte, kam Günther Ichtenhagen ihm entgegen, der hier oftmals seinen Spaziergang machte, und wenn das Blattwerk nicht dicht genug war, konnte Uschi Paul von ihrem Essplatz am Fenster auf den Weg sehen.
Hermann wusste von Wolfi, dass sie oft stundenlang dort saß, Chips und Nüsse verschlang und mit dem Fernglas vergeblich nach Abwechslung Ausschau hielt. Wolfi lachte darüber: „Vielleicht beobachtet sie die Kühe oder das Graureiherpärchen!”
Böse Stimmen behaupteten, dass sie mit ihrem Fernglas auch die Wohnstuben der Leute im Unterdorf inspizieren konnte.
Diesen Weg war Hermann Segler zuletzt vor vielen Jahren gegangen. Allerdings genau in die andere Richtung. Es war im frühen Morgengrauen gewesen, sie fröstelten und schleppten außer ihrem Angelzeug auch noch einen Kasten Bier durch den Wald. Damals hatten sie sich über ihre eigene Dummheit amüsiert. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, die Bierflaschen vorher mit dem Wagen zu den Teichen zu bringen. Aber nein, sie schleppten den Kasten durch den Wald. Sie wussten von vornherein, dass sie mehr Flaschen leeren als Fische fangen würden, und seit ein Enkelkind von Bürgermeister Sendlmayr von einem betrunkenen Weierstädter angefahren worden war, galt es im Dorf als unschicklich, betrunken hinter dem Lenkrad zu sitzen, selbst wenn es sich nur um die kurze Strecke von den Angelteichen bis nach Ichtenhagen handelte.
Hermann Segler war solche Fußmärsche nicht mehr gewöhnt. Mit jedem Schritt kam der Weg ihm länger vor. Schon nach wenigen Minuten war sein Hemd durchgeschwitzt, eine tanzende Traube blutrünstiger Stechmücken verfolgte ihn und sein rasendes Herz erinnerte ihn daran, dass der Bierkonsum seinen einst athletischen Körper immer mehr zu einem aufgeschwemmten, massigen Fleischkloß hatte werden lassen.
Er hielt an, tupfte sich mit einem Taschentuch die Schweißtropfen aus dem Gesicht und dachte grimmig: Was bin ich nur für ein Schlappschwanz geworden. Das hat sie aus mir gemacht! Mit ihren Nörgeleien, mit ihren Sticheleien, seit Jahren gibt sie mir ständig das Gefühl zu versagen. Und ich schaffe es nicht, mich gegen sie aufzulehnen. Ich schaffe es nicht. Ich lasse mich von ihr behandeln wie ein kleiner Junge. Gehe für sie und ihren Scheißlebensmittelladen arbeiten, hör mir ihren Tratsch an, lausche andächtig den neuesten Horrorgeschichten, die sie über den Supermarkt in der Kreisstadt zu berichten weiß, lobe ihr Engagement für Ichtenhagen und werde immer kleiner
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