Traumfrau (German Edition)
Ladenglocke erlöste Dieter immer wieder für Minuten von ihrer Anwesenheit. Seit Hermann Seglers Tod kamen mehr Kunden als sonst. Viel mehr. Eigentlich wollte niemand wirklich etwas kaufen. Neugier trieb die Ichtenhagener in Seglers Laden. Wie sah die Frau von einem aus, der Selbstmord begangen hatte? Welche Schwierigkeiten hatte Hermann Segler gehabt? Wusste sie von nichts? Wie weit musste einer getrieben werden, bis er sich umbrachte?
Man kaufte ein Tütchen Schlagsahne, ein Päckchen Kamillentee, ein paar Scheiben verpackten Käse und nahm die Gelegenheit wahr, Frau Segler auszuhorchen und zu taxieren. Nicht jedes Mitleid war geheuchelt. Doch die Aufregung über den merkwürdigen Todesfall in Ichtenhagen schimmerte durch alle Beileidsbekundungen. Sensationsgier und natürlich die Frage: „Wer ist Schuld daran?”
Dieter Segler begann die lauernden Verhöre als Unverschämtheit zu empfinden.
Als Uschi Paul zum dritten Mal im Laden erschien, diesmal, um für neunundneunzig Pfennig ein Tütensüppchen zu kaufen, woraus ein Dreißig-Minuten-Gespräch wurde, reagierte Dieter ungehalten. Er war gut genug erzogen, um nicht in das Gespräch hineinzuplatzen. Er hatte gelernt, dass die Kundschaft immer Vorrang hat! Nur ein einziges Mal hatte er diese eiserne Regel als Kind durchbrochen. Damals war er hingefallen und stand mit blutenden Knien hinter der Theke. Es war nach einem Kampf gegen die Weierstädter gewesen. Sie hatten ihn, Udo Tiedemann, Helga Paul und Martin Schöller bis nach Ichtenhagen hinein verfolgt. Wimmernd vor Schmerz und zitternd vor Angst suchte Dieter Schutz im Laden seiner Mutter. Sie warf ihm nur einen wütenden Blick zu und scheuchte ihn in die Wohnküche.
„Im Geschäft haben Kinder nichts verloren.”
Das nur wenige Minuten dauernde Verkaufsgespräch wurde für ihn zu einer Ewigkeit. Er erinnerte sich noch heute an alles. Das Knistern des Einpackpapiers, das Auszahlen von Wechselgeld, und als er endlich glaubte, jetzt sei seine Mutter mit der Kundin fertig und könne sich ihm widmen, da zählte die Kundin jede einzelne Münze noch einmal auf die Ladentheke und rechnete ihren Warenkorb nach. Es stimmte alles auf den Pfennig genau, aber es nahm ihm noch einmal Zeit. Zeit, in der er seine Mutter gebraucht hätte. Als sie endlich kam, um ihm ein Pflaster zu bringen und ihn zu trösten, spürte er den Schmerz in den Knien schon nicht mehr. Ein anderer, tiefer Schmerz verletzte ihn: das Gefühl, jeder, der nur genügend Geld dafür zahlen konnte, hätte mehr Anrecht auf die Zuwendung seiner Mutter als er. Am liebsten hätte er den Laden in die Luft gesprengt. Er glaubte, dass er kein Recht darauf hatte, sie zu lieben und von ihr zurückgeliebt zu werden – nicht wenn Kundschaft da war – und so begann er, das Monster Kundschaft zu hassen. So musste er wenigstens nicht seine Mutter hassen, sondern nur die Menschen, die sie von ihm fern hielten.
Diese Gefühle schossen plötzlich in ihn zurück, machten ihn wieder klein und verletzlich. Das wollte er nicht. Er sträubte sich dagegen, doch wie nach einer lähmenden Spritze pulste das Gift der Erinnerung durch seine Adern, veränderte seine Körperhaltung, ließ ihn zwischen freundlicher Unterwürfigkeit und äußerster Aggression schwanken. Zur Bestätigung seiner Männlichkeit stolzierte er in den Laden, nahm eine Flasche Schnaps aus dem Regal, schraubte sie auf, goss ein paar Schluck in ein Wasserglas und leerte es trotzig mit einem Seitenblick auf die Mutter.
Als Uschi Paul endlich gegangen war, schrie er seine Mutter an: „Ist das hier so ‘ne Art Peep-Show oder was? Darf man dich für neunundneunzig Pfennig begaffen, solange man will? Hast du überhaupt keine Ehre? Hast du überhaupt keinen Stolz? Was verkaufst du hier? Lebensmittel oder dich selbst?”
Sie versuchte eine sachliche Antwort. Eine von denen, die ihn schon vor vielen Jahren zur Raserei gebracht hatten: „Man muss froh sein über jeden Kunden. In Weierstadt könnten die Leute billiger einkaufen.”
Dieter starrte sie an. Sie hielt dem Blick nicht länger stand, senkte die Augen, suchte die leere Tischplatte ab und fuhr dann mit brüchiger Stimme fort: „Besonders jetzt, da dein Vater tot ist, bin ich auf den Laden angewiesen.”
Zynischer als beabsichtigt zischte Dieter zurück: „Und jetzt wo Vater tot ist, läuft der Laden ja endlich. Sie rennen dir die Bude ein. Du hast gar keine Zeit, deinen Mann zu beerdigen. Was ist, wenn während der Beerdigung einer ein Päckchen
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