Traumfrau (German Edition)
Ichtenhagen in der unmittelbaren Nähe seiner Eltern. Trotzdem: Alle sollten mitkriegen, dass es mit ihm bergauf ging. Aus Schwabbel war ein Muskelpaket geworden. Und bald schon wäre er Chef einer eigenen Agentur. Mit Angestellten, denen er Weisungen erteilen konnte! Er.
Udo Tiedemann war in der Kreisstadt gesehen worden. Noch nicht in Ichtenhagen, aber immerhin in der Kreisstadt. Bestimmt würde er bald in der Linde eintrudeln. Einer, der aus dem Dorf kam und es draußen in der Welt zu etwas gebracht hatte, kehrte immer mal wieder zurück, um allen zu zeigen, was für ein toller Hecht aus ihm geworden war. Helga Pauls 2CV stand bereits vor dem Haus ihrer Eltern. Kamen sie alle zu Hermann Seglers Beerdigung? War es Zufall? Sie würden sich wundern, einen selbstbewussten Martin Schöller vorzufinden, der Geld in der Tasche hatte. Egal, was man treibt im Leben, dachte Martin Schöller, eigentlich laufen einem immer diese alten Geschichten nach: Wer in der Schule wen und warum überflügelt hat.
Heute, dachte er, heute, lieber Udo, würde sich Helga für mich entscheiden. Denn ich habe den Stein damals geworfen. Nicht du. Du schmückst dich mit fremden Federn. Immer noch. Heute würde ich stehen zu meiner Tat. Und sie mir nicht stehlen lassen. Von niemandem!
Dieter Segler gesellte sich sofort zu seinem alten Freund Martin Schöller.
„Mensch, hast du dich verändert. Ich hätte dich kaum erkannt. Deine Haare – ist das eine Dauerwelle?”
„Na denkst du, ich hab eine Naturkrause, hahaha?”
„Mensch, überhaupt, wie du aussiehst! Mister Universum, was?”
Für Sekunden vergaßen sie, dass Dieter nach Ichtenhagen gekommen war, weil sein Vater Selbstmord begangen hatte. Am liebsten hätten sie sich gegenseitig auf die Schultern geklopft und wären losgezogen wie junge Dachse, um die Kneipen in Weierstadt niederzusaufen. Leicht großspurig gab Martin Schöller das erste Bier für seinen alten Freund aus und drängte ihn, auch einen Schuss Sekt hinzuzugeben. Dieter lehnte ab, mochte so etwas angeblich nicht, doch Martin blieb hart und gewann.
Plötzlich fühlten sie sich beobachtet. Die Gespräche im Raum wurden leiser, erstarben sogar vereinzelt. Mit einem einzigen Blick verständigten sie sich. Im Grunde war alles wie früher. Sogar Helga und Udo waren in der Nähe. Sie hatten gemeinsame Geheimnisse. Dinge, die keinen etwas angingen. Alte Zeiten wurden beschworen. Die glorreiche Steinschlacht ...
Sie wollten das Lokal verlassen und noch ein wenig zusammen spazieren gehen. Nicht alles, was sie sich zu erzählen hatten, brauchten die anderen zu wissen. Die sollten ihre eigenen Abenteuer erleben ...
Gegen Martin kam sich Dieter auf eine miese Art seriös vor. Zum Schämen bürgerlich. Er konnte es nicht genau benennen, doch vor Martin fühlte er sich furchtbar ordentlich, langweilig, vernünftig und auf spießige Art mutlos. Martin dagegen stand unter Strom, fieberte einem Ereignis entgegen, wie ein Bergsteiger, der den Gipfel schon in Sichtweite hat und weiß: Ich schaffe es!
Martin trug ein Geheimnis in sich und brannte darauf, es Dieter zu erzählen. Aber nicht hier. Das zweite Bier wollte Dieter bezahlen, aber Martin ließ es nicht zu.
Wie Komplizen trollten sich die beiden.
Kaum vor der Tür, fragte Dieter: „Wo gehen wir denn jetzt hin?”
Martin Schöller zeigte auf den Club, als hätte Dieter ihn bisher nicht bemerkt, und grinste: „Ich würde dich gerne dorthin einladen, aber die Leute ... die Leute, du weißt ja.”
Dieter nickte höflich grinsend.
„Lass uns ein paar Schritte gehen.”
Erst jetzt, draußen an der Abendluft, wurde Dieter Segler bewusst, wie verraucht es in der Linde gewesen war.
„Also Martin, du wirkst gar nicht wie einer, der immer noch hier in Ichtenhagen herumhängt. Was hält dich? Hast du noch nichts Besseres gefunden?”
Martin legte den Arm um seinen alten Freund: „Geschäfte.”
„Geschäfte? Kann man in Ichtenhagen Geschäfte machen?”
„Oh ja.”
Langsam schlenderten sie am Lebensmittelladen vorbei auf Günther Ichtenhagens Haus zu. Während er sprach, beobachtete Martin Schöller das Gesicht von Dieter genau. Er wollte auch nicht eine Gefühlsregung verpassen. Er wollte Dieters Erstaunen genießen, hoffte beinahe, der alte Freund würde zutiefst erschrecken: „Dein Vater hat dir noch eine kleine Erbschaft hinterlassen, über die wir beide reden müssen.”
„Willst du mich auf den Arm nehmen?”
„Keineswegs. Dein Vater, Hans Wirbitzki, Wolfhardt
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