Traumgirl auf Hawaii
zu befreien und aufzustehen. Trotz seines nicht funktionierenden Gedächtnisses und seiner schlechten Augen bekam er noch viel zu viel mit. Also versuchte sie es zu verbergen, indem sie aus seiner Nähe floh. Sie schaute aus dem Fenster.
Die Sonne stand jetzt tiefer über dem Meer. Sie konnten den Bach rauschen hören, der den Bergen entsprang, deren Gipfel von Wolken verhüllt waren. Sie konnte den Ingwer riechen, die Blumen und den Eukalyptus, sie sah die Möwen und Sturmtaucher, die über dem Wasser flogen.
Sie war zu Hause, in der Geborgenheit der Berge. Und dennoch fürchtete sie sich vor diesem Ort, vor jenen Schatten und leisen Stimmen aus Urzeiten.
“Ich glaube, ich bin gefangen”, sagte sie leise, fast mehr zu sich selbst. “Meine Großmutter sagt, ich habe die Gabe der alten Zauberkraft. Sie will, dass ich mich der Wiederentdeckung all der Geheimnisse widme, die auf diesem Berg lebendig sind.”
“Ist das so schlimm?”
“Wenn man in der modernen Gesellschaft leben will, schon. Ich fürchte, ich bin nicht so wie die meisten in Niihua, die lieber der Tradition ihrer Vorfahren folgen. Ich mag Computer, Mikrowellenherde und Waschmaschinen. Aber anscheinend will ich nicht die Konsequenzen tragen, die ein solches Leben mit sich bringt.”
“Konsequenzen in Form von Baströckchen und Hulatänzen für Touristen?”
Lilly zuckte die Schultern und schloss die Augen. “Was ich wirklich will, ist, die moderne Technik hier einzuführen, ohne etwas dafür opfern zu müssen. Aber diese Dinge hierher zu bringen kommt mir wie ein Sakrileg vor. Daher pendle ich wie eine Zeitreisende und fühle mich nirgendwo richtig heimisch. Außerdem muss ich irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen, was verdammt schwer ist auf einer Insel, deren Einwohnerzahl unter der durchschnittlichen Besucherzahl eines Hotels am Strand von Waikiki liegt.”
“Was ist mit deiner Familie?”
“Meine Großmutter Chang stellt zu Neujahr für die Vorfahren extra Teller auf, und mein Großvater Rodriguez geht jeden Tag zur Messe, bei jedem Wetter. Meine Mutter, Tutu Marys Tochter, hält das Wiederaufleben der hawaiischen Kultur für Blödsinn. Meine Schwester war stellvertretende Miss Hawaii und präsentiert jetzt im Baströckchen die Wetteraussichten auf Kanal Zwölf. Meine drei Brüder bemühen sich, Football-Stipendien zu erhalten, damit sie später mal Banker, Wirtschaftsprüfer oder Computergenie werden können. Mein Vater ist seit letztem Jahr Navy-Einzelkämpfer im Ruhestand. Seiner Ansicht nach wurde Hawaii erfunden, um das U.S. Militär zu beherbergen. Sein Vater, Tommy Kokoa, hat sich zu Tode getrunken, als mein Vater zehn war. Er war ein phantastischer Surfer, wie es heißt.”
“Und Tutu Mary?”
Lilly schaute zum Himmel hinauf. “Sie lebt drei Berggipfel weiter bei den Gräbern ihrer restlichen Familie.”
Ethan wurde ganz still. “Sie hat Lepra?”
“Meine Mutter verbrachte ihre Kindheit damit, auf krankhafte Veränderungen untersucht zu werden. Ihre Erinnerung an die hawaiische Geschichte ist vermutlich noch getrübter als die der anderen, was ihre Abneigung erklären mag, sich damit zu befassen.”
“Dann bist du also ein entwicklungsgeschichtlicher Rückschritt.”
Lilly drehte sich zu ihm um. “Ein was?”
“Ein genetischer Schritt zurück. Du hörst die Stimmen der Alten, von denen deine Großmutter spricht.”
Lilly stockte der Atem. “Woher weißt du das?”
Er lächelte sanft. “Das kommt bei den Schotten und Iren öfter vor.”
“Dann bist du also Ire?”
“Klar”, meinte er, fügte jedoch zerknirschter hinzu: “Ire oder Schotte, glaube ich. Vielleicht auch beides. Die Liebe zur Heimat scheint uns im Blut zu liegen. Das Sakrileg besteht nicht in dem, was du auf die Insel bringst, sondern darin, das Land preiszugeben.”
Lilly schüttelte den Kopf. “Das könnte das Lied der Enteigneten sein. Überleg mal, wie wenig von Hawaii den Eingeborenen noch gehört.”
“Fürchtest du dich so sehr vor dem alten Zauber?”, fragte er unvermittelt.
Lilly wollte ihn nicht belügen. “Ja. Sogar die Leute, die wirklich daran interessiert sind, die alte Kultur wieder aufleben zu lassen, scheinen nicht zu hören, was ich höre, oder zu sehen, was ich sehe.”
“Deswegen bist du noch nicht unbedingt verrückt”, sagte er sanft. “Vielleicht hatte deine Großmutter recht.”
Lilly wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Wie konnte ein reicher Fremder sie besser verstehen als ihre eigene
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