Traumjäger (German Edition)
verfallenen Hauswand verschwand, und robbte dann durch das Dornengestrüpp. Sofort hatte ich gewusst, wo ich mich verstecken würde; verstecken, sodass mich niemand finden konnte.
Kapitel 16
Auf dem Baum
G anz still saß ich auf der großen Astgabel in dem alten Baum. Er stand im verwilderten Garten des Häuschens. Hinter den schwach erleuchteten Fenstern liefen fremde Schatten nervös auf und ab. Ich konnte sie gut erkennen. Aber mich konnte niemand sehen. Und das war gut!
Alles war dunkel um mich herum. Die Nacht lieh mir großzügig ihren Schutzmantel. Fast meinte ich, ich wäre unsichtbar. Niemand außer Tom wusste, dass ich hier war. Ich wartete auf das Zeichen. Tom wollte mit der Taschenlampe dreimal kurz aufleuchten, damit ich Bescheid wusste. Dann sollte es losgehen. Wir hatten nämlich einen Plan, einen wirklich guten Plan.
Doch ich wartete jetzt schon seit geraumer Zeit. Ich hatte keine Uhr, aber es mussten schon etliche Minuten vergangen sein, seitdem Tom und ich uns getrennt hatten. Langsam wurde es mir unheimlich.
Wieso brauchte Tom nur so lange? Konnte es wirklich so schwer sein, Unkraut und Ranken von einem längst vergessenen, geheimen Eingang zu reißen? Hoffentlich war er wirklich geheim und längst vergessen. Ein dunkler Gedanke zwang sich mir auf: Was, wenn es nicht so war? Was, wenn mindestens einer der Traumlosen den Eingang genauso gut kannte wie Tom? Ein Traumloser – oder vielmehr: eine Traumlose…?
Unruhig rutschte ich auf der Astgabel hin und her. Sollte ich hinuntersteigen und nach Tom sehen? Sollte ich ihm meine Sorge mitteilen? Aber bestimmt würde er mir gerade dann das Zeichen geben, und dann hätte ich kein Versteck mehr, in dem ich Lärm machen konnte, um die Traumlosen herauszulocken. Dann würden sie ihn oder mich oder uns beide fangen. Nein, ich musste meine Position beibehalten. Schließlich war es Toms Plan, und Toms Pläne konnten nicht schief gehen. Oder doch? Die Zweifel begannen an mir zu nagen.
Was sollte ich tun?
Auf einmal hörte ich dumpfe Geräusche. Ein zugiger Wind pfiff mir um die Ohren, doch ich war mir fast sicher, Stimmen zu hören! Ich lauschte so angespannt, wie ich nur konnte. Mit einem Mal wurden die Geräusche lauter, übertönten den Wind, und dann war ich mir ganz sicher, dass es Stimmen waren: Hektische Stimmen, erregte Stimmen. Als würden Menschen – Menschen oder Traumlose – heftig miteinander streiten. Vielleicht auch kämpfen, denn da waren noch mehr Geräusche, die ich jedoch nicht ausmachen konnte.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich Toms Stimme zu hören glaubte. Doch bevor ich mir sicher war, war plötzlich alles still. Ganz still.
Irgendwo in der Finsternis wieherte ein Pferd. Erschrocken blickte ich in die Dunkelheit, doch ich konnte nichts erkennen. Ich war hin- und hergerissen.
Mein Gefühl sagte mir, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Am liebsten wäre ich vom Baum gesprungen.
Am liebsten hätte ich Tom gesucht. Aber irgendetwas hielt mich zurück.
Ganz plötzlich ließ der Wind nach, und es drangen kalte, aufgeregte Stimmen aus dem Häuschen an mein Ohr.
Was war nur passiert? Die Ungewissheit machte mich ganz verrückt. Ungeduldig bog ich ein paar Zweige, die vor meinem Gesicht hingen, zur Seite, um besser durch das Fenster sehen zu können. Doch der Vorhang verwehrte mir den Blick ins Innere des Hauses. Nur Schatten und Umrisse konnte ich in dem dünnen Kerzenschein erkennen.
Psst, was sagten die Stimmen?
„…haben ihn… nein… brauchen ihn noch… könnte nützlich sein… die Uhr… Sorgul….“
Sorgul! Mich fröstelte es, ich bekam eine Gänsehaut.
Wen hatten sie? Wen brauchten sie noch?
Eine furchtbare Ahnung beschlich mich. Eine Ahnung, die zur schrecklichen Gewissheit wurde: Etwas war schief gelaufen. Tom, wo war er? Ich musste zu ihm. Sofort!
Nun hielt mich nichts mehr. Hastig hangelte ich mich an den dicken Ästen herab und ließ mich auf den Boden fallen. Gerade wollte ich über den Rasen zu dem Haus hinlaufen, da öffnete sich die schräg in den Angeln hängende Tür. Mit klopfendem Herzen versteckte ich mich blitzschnell hinter dem knorrigen Stamm und lugte vorsichtig dahinter hervor.
Zwei schwarze Gestalten erschienen am Türeingang. Ihre dunklen Umhänge wehten im Wind. Sie gingen hinter das Haus. Wieder wieherte ein Pferd. Dann erschienen zwei weitere Gestalten. Ich erkannte sie. Es waren dieselben, die in mein Zimmer eingebrochen waren. Und in ihrer Mitte war noch
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