Traumjaeger und Goldpfote
Er ging zu dem Fremden hinüber, der auf der Erde lag, in seinen Augen jenen sonderbaren, ziellosen Blick.
»Du hast gesagt, dass du ein paar Geschichten weißt, Grillenfänger. Warum erzählst du uns nicht eine? Wir hätten Spaß daran.«
Grillenfänger antwortete nicht sogleich. Als er seinen Kopf hob, um Traumjäger anzuschauen, waren seine Augen von einer tiefen, furchtbaren Traurigkeit erfüllt. Einen Augenblick lang dachte Fritti, er sei der Grund dafür, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass die alte Katze ihn überhaupt nicht wahrnahm.
Plötzlich verschwand der Ausdruck von Grillenfängers besudeltem Gesicht, und seine Augen starrten Traumjäger an. Ein schwaches Lächeln lief um sein Maul.
»Was ist, Junge, was?«
»Eine Geschichte. Du hast versprochen, uns eine Geschichte zu erzählen, Grillenfänger.«
»Ja, das stimmt. Und ich kenne eine Menge – ausschweifendeund unglaubliche und haarsträubende Geschichten. Worüber wollt ihr denn etwas hören?«
»Eine Geschichte von Feuertatze und seinen Abenteuern!«, sagte Raschkralle eifrig.
»Oh …«, sagte Grillenfänger und schüttelte seinen Kopf. »Ich fürchte, darüber weiß ich keine guten … nicht über Feuertatze. Etwas anderes?«
»Hm …« Raschkralle dachte enttäuscht nach. »Wie wär’s mit den Heulern? Eine Geschichte von großen, gemeinen Heulern und tapferen Katzen! Wie wär’s damit?«
»Bei der schnüffelnden Schnecke, zufällig kenne ich eine gute Geschichte über die Heuler! Soll ich sie euch vorsingen?«
»O ja, bitte!«, sagte Raschkralle und räkelte sich erwartungsvoll in seinem Fell. Er hatte Geschichten vermisst.
»Nun gut«, sagte Grillenfänger. Und er fing an.
»Vor langer, langer Zeit, als die Katzen noch Katzen waren, und die Ratten und Mäuse nachts im Gebüsch sangen ›Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht um‹ – in dieser Zeit lebten die Heuler und das Volk in Frieden miteinander. Die letzten der Teufelshunde waren ausgestorben, und ihre friedlicheren Abkömmlinge jagten Seite an Seite mit den Ahnen unserer Vorfahren.
In diesen Tagen lebte ein Prinz – oh, welch ein Prinz! – und der hieß Rotbein, und ihm war am Hof großes Unglück widerfahren, wo seine Mutter, Königin Springwolke, herrschte. Flüsternd und tanzend ging er in die Wildnis, um mit den Steinen und den Bäumen Geheimnisse auszutauschen und Abenteuer zu erleben …«
»Genau wie Feuertatze!«, quietschte Raschkralle.
»Still!«, zischte Fritti.
»Eines Tages nun«, fuhr Grillenfänger fort, »als die Sonne so hoch am Himmel stand, dass Rotbeins Augen wehtaten, kam er zu zwei gewaltigen Haufen von Gebeinen, die zu beiden Seitenseines Pfades am Eingang zum Tal aufgehäuft waren. Er wusste, dass er vor den Toren von Barbarbar stand, der Stadt der Hunde. Die Heuler und das Volk hatten in diesen Tagen keinen Streit, und da Rotbein immerhin ein Prinz seines Volkes war, trat er in das Tal ein. Ringsum erblickte er jegliche Art von Heulern: große und kleine, fette und magere. Sie hüpften und sprangen und bellten und gruben Löcher und trugen Knochen hin und her. Doch die meisten der Knochen wurden zu den Säulen des Tores getragen, wo die kläffenden und jaulenden Rudel die Haufen erklommen und die Knochen ablegten. Als der Tag sich neigte, fiel es den kletternden Heulern immer schwerer, zur Spitze der Knochenhaufen zu gelangen – wo sie japsend und mit triefenden Nasen versuchten, die Säulen zu einem Bogen zu vereinigen.
Schließlich erschien, Befehle bellend, eine riesige, majestätische Bulldogge. Die Heuler mühten sich springend und kreiselnd ab, sie zufriedenzustellen, doch am Ende wussten sie kein Mittel mehr, die Spitzen der Säulen zu verbinden. Jedes leichtfüßige Hundchen der Hundestadt wurde hinaufgeschickt, um die letzte kleine Lücke zu füllen – die nur noch eine Knochenlänge breit war –, doch keines konnte die Spitze der gebogenen Säulen erreichen …«
Traumjäger spürte etwas Ungewöhnliches. Während er mit fest geschlossenen Augen dalag und Grillenfängers Lied lauschte, stellte er fest, dass er die Ereignisse in einer Weise
sehen
konnte, wie es ihm beim Mauertreff nie möglich gewesen war. Vor seinem inneren Auge sah er deutlich die geneigten Knochentürme, die Mühen des Heulervolkes und seinen Anführer, die Bulldogge, so als sei er dabei gewesen. Wie war das möglich? Er leckte sein Vorderbein, wusch sich das Gesicht und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Worte der alten Katze.
»Nun war es in
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