Traumkristalle
ästhetische und ethische Ideal von dem wissenschaftlichen Institut getrennt ist, werden Sie passend finden. Jeder Schüler aber muß die untersten Klassen sämtlicher Abteilungen behufs seiner allgemeinen Bildung durchlaufen; dies geschieht im ersten Jahre, im zweiten findet dann die Ausbildung zu seinem speziellen Fache in den oberen Klassen statt. Ist auch diese vollendet, so treten wir in die Akademie ein, in welcher die Vorlesungen der Lehrer jetzt leicht und willig erfaßt, verstanden und behalten werden. Mit dem neunten Jahre ist die Erziehung vollendet – welche Resultate der modernen Pädagogik! Der Geist eines Neunjährigen entspricht heutzutage an Reife und Erfahrung dem eines bejahrten Mannes aus einer früheren Periode. Es gab eine Zeit, wo man sich schaudernd fragte: Bei der ungeheuren Zunahme an Material des Wissens, bei der Häufung des geistigen Inhalts der Zeit – wie soll es dem jungen Menschen, wie dem einzelnen überhaupt möglich sein, auch nur einen ganz allgemeinen Überblick zu bewahren? Und man schuf Methode auf Methode und Lehrbuch auf Lehrbuch, und jeder fragte zuletzt verzweifelt: Wie soll das werden? Aber wie einst in der Astronomie die Erscheinungen den Anhängern des Ptolemäus über den Kopf wuchsen, die vergebens Epizykel auf Epizykel und Rädchen auf Rädchen in der Himmelsmaschine häuften, ohne zustande zu kommen mit der Erklärung, bis Kopernikus mit seinem Machtspruch hervortrat und die Sache umkehrte, die Sonne stillstehen hieß und die Planeten drehte – so erschien auch der Pädagogik ihr Kopernikus in der Stunde der Gefahr! Im Jahre 3781 schrieb Hemisphärion: ‚Die Theorie der Gehirnfunktionen ist seit hundert Jahren entwickelt – wohlan denn! Benützen wir sie! Fort mit den Lehrbüchern, mit den Methoden des Unterrichts, mit den mnemotechnischen Kniffen! Wenn sich der Lehrstoff dem Gehirn nicht bequemen will, gut, so bequeme sich das Gehirn dem Lehrstoffe! Laßt uns Laboratorien erbauen, Physiologen mögen unsere Lehrer werden – präpariert die graue Substanz des Kindergehirns, und ihr braucht nicht die Schriftsteller für sie zu präparieren!’ Es sind goldene Worte! Bekämpft, verlacht, haben sie doch den Sieg errungen, und wir danken Hemisphärion, dem wahren Erfinder des berühmten Nürnberger Trichters’, aus vollem Herzen. Doch verzeihen Sie mir, Herr Propion“, unterbrach sich der Direktor, „ich habe Ihre Geduld in Anspruch genommen und dabei selbst meine Zeit fast versäumt. Ich muß zu meinem Geschichtsvortrage nach Prima – ich gebe heut eine Übersicht über das letzte Jahrtausend. Schon sind wir vor der Türe – ich habe die Ehre.“
Man berührte sich mit den Spitzen der kleinen Finger, wie es die Sitte der Zeit verlangte; Propion sprach seinen Dank aus und steckte sich ein „Bildtäfelchen“ ins Auge, während er auch Strudel ein solches anbot, der ebenso verfuhr. Dann trat Strudel in den Hörsaal.
Die Schüler lagen in Hängematten und richteten, ihr Bildtäfelchen in den Augen, den Blick auf die Decke. Das Bildtäfelchen beschäftigte den Gesichtssinn durch ein mildes und erfrischendes Farbenspiel, wodurch eine größere Sammlung des Geistes erreicht wurde. Prudel setzte sich in seinen erhöhten Schaukelstuhl, machte sich ein Glas Kunstwein zurecht und begann seinen Vortrag, indem er sich der üblichen Universalsprache bediente.
II DAS VIERTE JAHRTAUSEND
EIN STÜCKCHEN KULTURGESCHICHTE
Die europäische Zivilisation hatte gegen Ende des dritten Jahrtausends ihren Höhepunkt erreicht. Man flog durch die Luft, man beherrschte die Erde bis ins Innere Asiens und Afrikas, wo große Wüsten urbar gemacht, ganze Landstrecken im Klima verändert worden waren; man hatte die wilden Völkerschaften daselbst unterworfen und zivilisiert oder vernichtet; man hatte durch die Vervollkommung der Technik eine übergewaltige Machtfülle erreicht; aber man hatte auch jeden Genuß aufs subtilste verfeinert und die Erwerbsquellen bis auf das Maximum ihrer Ertragsfähigkeit ausgebeutet.
Noch um die Mitte des dritten Jahrtausends hatte sich der Aufschwung zu so hoher Blüte der Kultur auch in einer idealen Erhebung vom kühnsten Schwunge kundgetan. Solange die Entwicklung fortschritt, durchdrang das Bewußtsein von der großen Aufgabe der Menschheit und die Überzeugung von der eigenen Befähigung, sie zu erfüllen, alle Schichten der Bevölkerung. Man war stolz, zu leben und Mensch unter Menschen zu sein; Wohlstand herrschte überall, und die
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