Traumkristalle
diejenige Seite des Menschen darunter leiden wird, welche ihm das reinste Glück zu gewähren imstande ist, die Seite des Gemüts. Wohl können wir uns mit Hilfe des Psychokineten immer noch beliebigen Stimmungen hingeben, aber ist es nicht ein trauriger Ersatz, diese künstliche Hervorrufung von Furcht und Hoffnung, Zagen und Jubeln, wenn diese Affekte aus der Wirklichkeit mehr und mehr entschwinden? Wenn wir unsere Zukunft vorausberechnen, wenn die Komplikation unserer Lebensbedingungen klar vor Augen liegt, wohin schwindet da die Poesie des Daseins?
Nur der Irrtum ist das Leben.
Und das Wissen ist der Tod.“
Kotyledo nickte ihr zu, Atom aber entgegnete: „Sie zitieren da einen uralten Ausspruch, der für uns gar keine Geltung mehr hat. Ich kann für meinen Teil nur ein Glück in dieser Klärung der Verhältnisse sehen. Nur müssen wir uns von Jugend auf – und das geschieht neuerdings glücklicherweise – mit dem Gedanken vertraut machen, daß wir eben nur unter Bedingungen leben, daß sich unser Lebensprozeß und unser Schicksal nach großen und ehernen Gesetzen vollzieht; wenn wir nun diese Gesetze mit allen Einzelumständen kennen, so mögen wir um so leichter uns ihnen beugen. Nur wenn wir unsere Zukunft nicht kennen, kann Enttäuschung und Leid entstehen; liegt sie aber klar und offen da, so kann überhaupt keine Hoffnung erweckt, also auch keine vereitelt werden; es kann keine Furcht und Angst uns quälen, denn kein Ungewisses Grauen liegt vor uns, sondern nur sichere Gewißheit; und in dieser zu leben, muß uns einfach zur Gewohnheit werden. Es handelt sich nur um einen Übergang. Vorläufig liegt ja die Sache noch gar nicht so, daß wir bis ins einzelne wüßten, was uns bevorsteht; wir können nur in gewissen Fällen fragen: Wenn du dies und das tust, was geschieht dann? Wenn du diese Voraussetzung machst, was muß daraus folgen? Und die Antwort darauf gibt uns die Rechnung. Es steht uns also noch eine Wahl offen, und wir können uns noch in gewisser Beziehung der Täuschung hingeben, als sei unser Wille in Wirklichkeit frei. Wer hierin eine Gebugtuung findet, der mag davon Gebrauch machen! Daran aber sollte er unverbrüchlich festhalten: Füge dich dem Schicksal, dessen Gesetz dir bekannt ist; weißt du, daß eine Handlung dein Verderben zur Folge hat, so unterlaß sie und gib dich nicht der trotzigen Hoffnung hin, das Schicksal müsse seinen Lauf zu deinen Gunsten ändern; halte fest an der Überzeugung, daß die Gesetze des Daseins unveränderlich sind und daß der am besten lebt, der sich ihnen fügt, wo er sie erkennt, und nur dort kämpft, wo noch Wechsel möglich ist, das heißt, wo noch Schatten der subjektiven Erkenntnis liegen.“
„Und ich“, rief Lyrika, die mit größter Ungeduld den letzten, eigentlich ihr allein geltenden Worten zugehört hatte, „ich“, rief sie mit glänzenden Augen, „werde auch kämpfen gegen das Gesetz der Notwendigkeit; wenn ich eine Hoffnung gefaßt habe zur Zeit meiner Blindheit, wenn ich dann sehend werde und erkenne, daß ich Verderbliches gehofft – so bleibt doch noch die Frage: Ist nicht das Verderben besser als der liebsten Hoffnung entsagen? Ist es nicht schöner, mit seiner Hoffnung unterzugehen, als ohne sie zu leben? Hat das Dasein ohne sie noch einen Wert? Und diese Frage habe ich zu entscheiden.“
„Und wenn Sie“, rief Atom erregter als gewöhnlich, „diese Frage so entscheiden, wie Sie zu wollen scheinen, so begehen Sie ein Verbrechen; so versündigen Sie sich an der Gewalt des Naturgesetzes, und Sie büßen gerechterweise.“
„Wenn es das echte Gesetz der Natur ist, da den Menschen unvermeidlich und nicht nur fälschlich von ihnen geglaubt – gut, dann werde ich gern büßen.“
Mit diesen Worten ergriff sie ihre Schraube, verließ das Zimmer und schwebte zum Fenster hinaus. Ohne sich zu besinnen, stürzte Kotyledo ihr nach. Zwischen den wogenden Wolken der leuchtenden Gase holte er sie ein, und sie verloren sich in den gewundenen Bahnen des Luft- und Wolkengartens.
Der Abend war schon heraufgezogen, aber die Anlagen, in welchen Kotyledo und Lyrika sich bewegten, bildeten ein Meer von Licht im eigentlichen Sinne. In immer neuen Gestalten wogten und wallten die luftigen Straßen und verdunkelten mit ihrem Glänze die alten Sterne, die in nur wenig veränderten Stellungen herniedersahen wie vor Jahrtausenden.
VI LYRIKAS KAMPF
„Lyrika, wie soll ich Ihnen danken! Sie haben mir die Freiheit der Rede
Weitere Kostenlose Bücher