Traumkristalle
Fachmann übernehmend, „das Prinzip der Arbeitsteilung, das heißt der allgemeinen Neigung aller organischen Individuen, sich immer ungleichartiger auszubilden; je ungleichartiger ihre Bedürfnisse und ihre äußeren Tätigkeiten sind, um so leichter können sie nebeneinander existieren, ohne sich das Feld streitig zu machen. Der Kampf ums Dasein begünstigt diese Divergenz. Dieser Sonderung der individuellen Ausbildung entspricht auch eine Differenzierung der Organe; und im allgemeinen findet man, daß, je höher ein Organismus in der Reihe der Wesen steht, um so mannigfaltiger ausgebildet seine Organe sind. Während alle Lebenstätigkeit bei den niedrigsten Tieren auf eine Zelle konzentriert ist, scheiden sich die Tätigkeiten der Zellen auf den höheren Stufen mehr und mehr; gewisse Zellgruppen widmen sich dann allein der Nahrungsaufnahme, andere der Licht- oder Schallaufnahme und bilden sich zu Werkzeugen des Sehens und Hörens aus. So sehen wir die Organe der Sinnesauffassung, der Ernährung, der Bewegung und Fortpflanzung entstehen, und je mehr sich diese wieder in sich sondern und in die Arbeit teilen, um so mehr vermag das Individuum zu leisten. Bei den höchstentwickelten Organismen reicht nun sogar ein Individuum nicht mehr aus, alle Aufgaben der Gattung zu erfüllen. Die verschiedenen Fähigkeiten und Arbeiten zur Erhaltung des eigenen Lebens und des der Nachkommenschaft verteilen sich in verschiedenem Maße auf die beiden Geschlechter. Auf diesem Standpunkte steht neben vielen höheren Tieren gegenwärtig auch noch der Mensch. Doch hat die Natur den Weg, welchen sie einzuschlagen gedenkt, uns schon in einem Zweige der Tiere angedeutet, welche, wenigstens in gewisser Beziehung, selbst den höchstentwickelten Säugetieren vorangeschritten scheinen. Wenn wir unsern Stammbaum bis zu den Würmern hinab verfolgen, so zeigt es sich, daß sich aus diesen heraus zwei Zweige entwickelten, welche auf einen Gipfelpunkt der Ausbildung gekommen sind und eine größere Verbreitung zeigen, während die übrigen im Niedergange begriffen sind. Es sind dies einerseits die Wirbeltiere, andererseits die Insekten. Wie in der Reihe der ersteren der Mensch an der Spitze steht, so haben auch in der Reihe der Insekten einige Klassen eine gewisse Kulturstufe erreicht, ich meine insbesondere die Bienen und Ameisen. Sie bauen Häuser, bilden Staaten und haben soziale Einrichtungen und Kunsttriebe, welche sie auf eine bedeutendere Stufe des Daseins stellen. Bei ihnen ist nun die Differenzierung weiter vorgeschritten, denn wir unterscheiden außer den Männchen und Weibchen auch noch geschlechtslose Arbeiter. Dies führe ich als Beispiel an. Und wenn ich nun Atom recht verstanden habe, so meint er, daß die nächste Entwicklungsstufe, welche der Menschheit bevorsteht, eine solche wäre, in welcher die verschiedenen Tätigkeiten, Aufgaben und Organe, welche jetzt noch in einem Individuum vereinigt sind, auf verschiedene Individuen verteilt wären.“
„Sehr gut.“ Propion lachte. „Sie meinen also, es wird dann besondere Denkmenschen, besondere Gefühls-, Arbeitsmenschen und so weiter geben?“
„Ja, gewiß“, sagte Atom, „und ich sehe gar nicht ein, warum immer nur zwei Geschlechter, ein ‚schönes’ und ein ‚starkes’ dasein sollen, warum nicht auch einmal drei oder vier.“
„Ach“, rief Funktionata, „das fehlte noch! Was soll dann so ein armes Liebespaar oder vielmehr eine Liebesdreiheit anfangen, ehe sie sich zusammenfindet! Haben doch zwei Herzen schon genug zu tun, bis sie zusammenkommen, und dann sollen es gar drei sein, ehe die Hochzeit gefeiert wird.“
„Das ist freilich schlimm“, bemerkte Atom.
„Und drei Schwiegermütter – nein, vielmehr drei mal drei mal drei gleich siebenundzwanzig Schwiegerelterlinge!“ seufzte Propion scherzend.
„Nun, beruhigen wir uns“, rief Kotyledo. „Wir erleben es nicht mehr. Darüber müssen noch viele Tausende von Jahren hingehen; aber man kann sich dem Gedanken nicht verschließen, daß, wenn unsere alte Erde noch so lange hält, das Gesetz der Entwicklung diesem Zustande zutreibt.“
„Der vielleicht gar nicht so unangenehm ist“, warf Atom ein.
„Ich will darüber nicht entscheiden“, begann jetzt Lyrika; „aber mir ist ein Bedenken gekommen, das mir viel näher zu liegen scheint als diese in eine weite Zukunft greifenden Spekulationen. Ich fürchte auch die Einseitigkeit der Ausbildung der einzelnen Gehirnpartien, und zwar deshalb, weil gerade
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