Traumkristalle
Leben lang danken für die glücklichen, unendlich glücklichen Stunden Ihrer Liebe. Jetzt sind wir frei, eine Zentnerlast fällt mir vom Herzen, da ich es Ihnen gesagt habe.
Schreiben Sie mir nicht wieder, an meinem Entschlüsse können Sie nichts ändern, es könnte nur zu einer Entdeckung führen.
Lydia.
Ich dachte immer, Liebe sei der Instinkt, wodurch man etwas allem anderen vorzieht; nun sah ich, daß Liebe die Menschen von einander treibt. Das verstehe wer kann! – In meinem Forschungseifer hatte ich mich auf den Tisch gewagt, während Lydia, – das ist so ein Menschenname, den man gar nicht aussprechen kann – den Brief zusammenfaltete. In diesem Augenblicke ging die Tür auf. Lydia hatte kaum Zeit, die Papiere und das Bild zusammenzuraffen und in ein Schränkchen zu verschließen, das zu dem Tische gehörte. Das alte Weibchen war hereingekommen. Dies war, wie ich bald erfuhr, Lydias „Mutter“; bei den Menschen hat nämlich jeder seine eigene „Mutter“ – ein mir nicht ganz klarer Begriff. Sie war ungehalten, daß Lydia noch schrieb, und fragte, was sie da so eilig verberge? Sie griff nach einem Blatte, das liegen geblieben war, aber jetzt erblickte sie mich, und mit dem Ausrufe: „Eine Ameise! Ich kann die Tiere in den Tod nicht leiden!“ schlug sie nach mir. Ich entfloh unter das Schreibzeug, sie rückte es fort, sie jagte mich weiter, endlich aber gelang es mir mich zu verbergen, und wie ich aus meinem Versteck bemerkte, hatte Lydia inzwischen auch das letzte Blättchen gerettet. Wieder ein Beispiel von der Eigentümlichkeit der Menschen, sich gegenseitig manches zu verbergen!
Das Licht war verschwunden. Ich konnte mich nach kurzer Ruhe hervorwagen und meine Entdeckungsreise beginnen, denn im Finstern sehen die Menschen nichts. Mein Ziel war das Schränkchen, in das ich durch das Schlüsselloch eindrang. Ich fand Kästchen mit Schmucksachen, vertrocknete Blumen, Papiere und Briefe, und ich nahm mir vor, hier eingehende Studien zu treiben. Wenn irgendwo, so mußte hier zu entdecken sein, was Liebe ist, denn Lydia schien dies ja genau zu wissen.
Vergebens sah ich mich nach Lebensmitteln um. Mich hungerte und ich verließ wieder das Schränkchen. Weite Wanderungen legte ich unter Entbehrungen und Gefahren zurück, ich fühlte mich einsam und beklagte meinen Fürwitz. Schon nahte der Tag, und ich mußte daran denken mich zu verbergen. Da – ich atmete auf – spürte ich die Nähe von Honig. Ich drang durch die Ritze eines Schrankes, ich fand einen großen Vorrat – aber – andere Ameisen waren bereits dabei! Sie stürzten auf mich zu – ich war verloren, oder wenigstens zum Sklaven gemacht! Ich wollte tapfer sterben und rüstete mich zum Kampfe. Den ersten packte ich mit den Zangen – da berührten ihn meine Fühler, und – ich erkannte Rlf! Es war unser eigener Stamm, unsre Expedition, die hier ihr Vorratslager hatte. Im Triumphe führten sie mich in ihr Versteck unter den Dielen. Sie erzählten von ihren Entdeckungen, sie zeigten mir die große Anzahl übertasteter Keulenkäferchen, eine glänzende Bibliothek, aber vor allem hatte ich das Bedürfnis nach Nahrung und Ruhe. Beides wurde mir zuteil.
In der nächsten Nacht führte ich eine Abteilung unserer Expedition mit den nötigen Keulenkäferchen in Lydias Geheimfach, um die Akten der Liebe zu durchstöbern und aufzunehmen. Wir begannen zu übersetzen und zu übertasten. In unserm Eifer bemerkten wir nicht, daß draußen der Tag längst angebrochen war, als wir durch die laute Stimme der Mutter aufmerksam gemacht wurden. Noch hofften wir verborgen bleiben zu können. Wir lauschten mit unsern Ferntastern. Sie stritt mit Lydia und verlangte von ihr den Schlüssel des Schränkchens. Plötzlich wurden wir vom hellen Tageslicht geblendet, das durch die geöffnete Tür schien. Die Mutter guckte herein, aber ehe wir uns retten konnten, schlug sie die Tür wieder zu und schrie:
„Wieder Ameisen! Ein ganzes Nest! Und über den Honig sind sie auch gegangen. Wo ist der Spiritus? Wir wollen sie hineintun, Ameisenspiritus ist so gut gegen Rheumatismus. Ich will nur ein Töpfchen holen.“
Ameisenspiritus! Entsetzlich! Was wollte man mit uns? Zerquetschen? Ertränken? Und nirgends eine Rettung? Wir kletterten zum Schlüsselloch; es war unzugänglich, der Schlüssel steckte darin – kaum ein Keulenkäferchen hätte sich durchdrängen können. Nirgends ein Spalt, eine Ritze, überall die glatte Politur – wir rannten ohne Überlegung
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