Traumkristalle
umher. Da öffnet sich noch einmal die Tür auf einen Moment, Lydias Hand greift hinein und erfaßt das Päckchen Papier, das sie schnell in ihre Tasche gleiten läßt. Einige von den unsern werden dabei hinausgeschleudert und vernichtet. Die Tür ist wieder geschlossen. Wir hören die Alte zurückkommen, sie ruft nach dem Spiritus – da, beim Herausreißen der Papiere hat sich der Deckel eines Pappkästchens verschoben, wir kriechen durch den schmalen Spalt. Auf Watte lag ein großer gewundener Wurm von blankem Stoffe, wie ihn die Menschen am Arme tragen. Am Kopfe hatte er zwei Augen, in dem einen saß ein roter Stein, das andere war leer. Inwendig war der Wurm oder die Schlange hohl – hier konnten wir uns verbergen! Führer, Arbeiter und Keulenkäferchen, alles brachten wir in den Windungen des Armbands unter. Wir hörten die Mutter schelten – weder die Ameisen noch die Papiere fand sie!
Es folgten die furchtbarsten Tage meines Lebens. Der Schrank blieb verschlossen, aber auch das Schlüsselloch. Es war uns unmöglich zu entfliehen. Wenn Geräusch entstand, verbargen wir uns in dem Armband. Hier saßen wir zusammengedrängt, vom Hunger erschöpft. Nach einer solchen Flucht fanden wir die Papiere wieder im Schranke vor, wir studierten sie weiter trotz unseres erbarmungswürdigen Zustandes. Der Schlüssel war auch wieder abgezogen, aber es war ein anderer fester Gegenstand vorgeschoben, den wir nicht beseitigen konnten. Noch immer keine Aussicht auf Rettung! Wir versuchten das Papier zu verzehren, aber es bekam uns nicht.
Beutesonne 17. starb der Führer Mrs und fünf Arbeiter. Die Käfer sind noch wohlauf. Beutesonne 18. verloren wir einen Führer und zehn Arbeiter. Wir hatten beschlossen, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Sich beim Öffnen der Tür hinauszuwagen, wäre direktes Verderben gewesen. Wir hatten jedoch bemerkt, daß, wenn die Tür aufging, an der Seite, wo sie sich drehte, ein schmaler Spalt entstand. Ein Führer und zehn Arbeiter sollten bei der nächsten Öffnung des Schrankes den Versuch machen, sich hier hinauszuschleichen. Gelang das Wagnis, so sollten die übrigen es später ebenfalls versuchen. Sie warteten an der passenden Stelle, aber – als die Tür aufging, wurden sie zu unserm Entsetzen durch die einwärts tretende Kante grausam zermalmt! Wir waren in Verzweiflung. Hoffnungslos untersuchten wir, was in den Schrank gelegt worden, – neue Papiere – was nutzten sie uns jetzt? Aber da, ein Päckchen, süß duftend – wir zernagen das Papier – eine dunkle, süße Masse, – wir kannten sie nicht, aber sie schmeckte herrlich! Wir waren vorläufig vor dem Hungertode gerettet! Mit erneuter Kraft ging ich an die Übersetzung der Papiere. Der Inhalt lautet:
O rede nicht mir von Verstand und Pflicht!
Wer hat der Liebe dunkles Reich ermessen,
Wo Wunsch und Tat sich selber widerspricht?
Ich kann es nicht, und will nicht dein vergessen!
Um einen Preis nur stand ich still zurück, –
Um deinen Frieden könnt’ ich von dir lassen.
Doch gönn’ ich die Geliebte nur dem Glück.
Und was dich elend macht, das muß ich hassen.
Ertragen will ich, was dein Wink befiehlt,
So lang’ dein Lächeln leuchtet durch die Tage;
Wenn sich die Träne dir vom Auge stiehlt,
Wie war’ es möglich, daß ich dir entsage?
Wie fliehende Wetter, siegreich übersonnt,
Im Scheiden goldig glüh’n am Horizont,
So wirft das Leid auf seiner Flucht den Schein
Erneuter Hoffnung mir ins Herz hinein.
In heißen Tränen hab’ ich dein gedacht,
In bittrem Groll die Tage hingebracht,
Den Wahn verflucht, der mir den Sinn bezwang,
Die Lieder alle, die ich liebend sang.
Und doch, der Strauß, von deiner Hand gepflückt,
Wie mir sein Duft die Seele neu berückt!
Und wie mein Lied die müden Schwingen regt,
Vom Tränenblick der Herrin ernst bewegt!
Was uns das Herz in seiner Qual verriet,
Es sei ein Band, das enger uns umzieht;
Und wenn das Leben mir das Glück entrafft,
Ich glaube darbend an der Liebe Kraft!
Sind die Tage nicht verronnen,
Sind die Rosen nicht verblüht,
Seit aus deiner Augen Sonnen
Mir der letzte Strahl geglüht?
Seit dein Wort zum letzten Male
Vom geliebten Mund getönt,
Nicht mehr an die erz’ne Schale
Hat der Stunden Schlag gedröhnt.
In ein ew’ges Jetzt erstarret
Ist der flüchtige Moment,
Und der dumpfe Schmerz verharret,
Und die Sehnsucht wühlt und brennt.
Mich vom Erdentod zu retten
Hast du mich der Zeit
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