Traumkristalle
wenn er daran denke, daß alles dies wäre und geschähe und vorwärtsginge, gleichviel, ob er davon wisse oder nicht, und daß es so gar nicht auf ihn ankäme und er doch keine Flügel und Fühler habe und seines Lebens sich freue. Ich sagte ihm, das fühle freilich ein jeder, aber man dürfe davon nicht reden, weil sich durch keine Worte sagen lasse, was das Ameisenherz in sich erlebt, und wenn er es andern übertasten wolle, so werde es etwas ganz andres werden, als er in sich fühle, und es entstünde flaches Gered’ und eitel Gezänk, und zuletzt zwackte man sich die Fühler ab. Dann wollte er gar wissen, ob bei den Menschen die Männchen auch nach der Hochzeit stürben – da hieß ich ihn die Taster halten, von den Menschen brauche er überhaupt nichts zu wissen, denn das sei eine Sache der Bildung, die nur die Führer anginge. Und damit schickte ich ihn fort. Soviel ich weiß, bleiben übrigens bei den Menschen die Männchen leben, sie sollen nur etwas träger werden. Es müssen dort merkwürdige Verhältnisse herrschen. Große Volksfeste haben sie wohl auch, aber an unser Hochzeitsfest dürften sie nicht heranreichen. Gerade die wichtigste soziale Frage scheinen sie als Privatsache zu behandeln. Wunderbar!
Hochzeitssonne 15.
Gestern war der große Tag. Die Sonne schien mild und warm. Hochzeitsgetümmel in den Lüften! Selige Ameisenschaft, heute Leben und Wonnesein, und dann ist’s vorbei. Die Männchen sind heute fast alle schon dahin, auch unter den Weibchen haben die Vögel tüchtig aufgeräumt. Die übrig Gebliebenen haben wir zum größten Teile bereits in die Winterzellen gebracht. Für die Zukunft des Stockes ist gesorgt, und nun mag das Jahr zu Ende gehen.
Wintersonne 1.
Endlich ist der Rest der Expedition von den Menschen zurückgekehrt, Tausende von eingetasteten Käfern führen sie mit sich, wir müssen unsere Bibliotheksräume durch einen Anbau erweitern. Unsere Gelehrten haben mehrere Menschenbücher übersetzt, ich habe schon viel darin gelesen, aber wenig verstanden. Vielen Menschen soll es auch so gehen. Was sich die Menschen einbilden! Sie nennen sich die Herren der Schöpfung und wissen nicht, daß sie nur aus der Erde gewachsen sind, damit wir an ihnen unsern Verstand üben und unsern Geist unterhalten. Denn sonst wüßte ich nicht, was sie eigentlich nützen.
Wintersonne 5.
Die Abrechnung über unsere Eroberungszüge ist beendet. Das Jahr war ein mittelmäßiges, viel Verluste, aber auch reichliche Sklaveneinfuhr, dagegen wenig Puppen erbeutet. In mein Tagebuch schreibe ich nichts von den Kriegsgeschäften, es lohnt sich nicht. Die Menschen machen von ihren Kriegen furchtbar viel her, das kommt aber daher, weil sie dieselben gegen ihre Freunde und nicht gegen ihre Feinde führen. Denn von den Feinden heißt es ausdrücklich, daß sie sie lieben sollen. Aber da ist wieder das unverständliche Wort!
Wintersonne 8.
Heute noch einmal im Freien, vielleicht zum letzten Male. Das Laub fällt von den Bäumen, und die Herbstspinnen fahren durch die Luft. Wir sahen unsern Menschen wieder, und das Weibchen war bei ihm. Sie schienen sehr befreundet, denn sie streichelten und liebkosten sich – dabei sprachen sie in großer Furcht davon, daß andere Menschen sie sehen könnten. Er sagte:
Durch wirbelnde Blätter schritt ich dahin –
Was raunte der Wind mir ins Ohr?
„Du findest ihn nimmer, den süßen Gewinn,
Was suchst du, irrender Tor?
Verweht die Wege, entfärbt die Flur,
Grauwallende Nebel verhüllen die Spur,
Und ferne der Lenz und das Licht –
Die Blumen, sie blühen dir nicht!“
„Du wirbelndes Laub, du sausender Wind,
Mir habt ihr vergebens gedroht!
Nun bin ich getrost, nun schreit’ ich geschwind,
Enthoben der quälenden Not.
Den Schleier durchbrach ein himmlisches Blau,
Mich grüßten die Augen der holdesten Frau
Und Wangen, die rosig erglüht!
Die Blumen, sie sind mir erblüht!“
Warum nur die andern Menschen davon nichts wissen sollten? Das Unaussprechliche verhandeln sie vor dem Volke in großen Versammlungen und das, wovon doch das Gedeihen des Stockes abhängt, scheuen sie sich zu besprechen. Trotz aller Ameisenähnlichkeit – sie bleiben doch immer bloß Menschen!
Wintersonne 16.
Es ist kalt geworden. Die Eingänge zum Stock sind verschlossen und verstopft. Heut haben wir den letzten Weibchen die Flügel abgenommen und sie in ihre Zellen gesteckt. Nun haben wir Ruhe!
Ich las in der Bibliothek in einem Menschenbuche
Weitere Kostenlose Bücher