Traumkristalle
es den Herrschaften gefällt, so benütze ich meine altbekannte Zauberkraft, gehe unter die Menschen und bringe Ihnen in einem halben Stündchen die sicherste Auskunft zurück.“
„Und womöglich gleich einige Weise!“ rief ihm Terpsichore nach, als Pythagoras schon verschwunden war.
„Ich komme mit leeren Händen“, sagte Pythagoras achselzuckend bei seiner Rückkehr. „Es gibt ja sicherlich Weise genug, aber ich habe kein Glück bei meinen Erkundigungen gehabt. Ich fragte zuerst einen Staatsminister, wen er für den Weisesten halte. Denn ich glaubte natürlich, daß diejenigen, welche die Geschicke der Völker lenken, auch am besten über den Sitz der Weisheit würden unterrichtet sein.
,Lieber Freund’, sagte der Würdenträger zu mir, ‚Weisheit ist eine schöne Sache, wenn man sie selbst hat; aber das Wort besitzt einen verdächtigen, theoretischen Beigeschmack; es gibt sogenannte weise Leute, deren Weisheit darin besteht, daß sie alles besser wissen und am besten verstehen wollen, und eben diese kann ich Ihnen nicht empfehlen. Ich bin ein praktischer Staatsmann, meine Aufgabe besteht darin, Gutes zu wirken durch Einsicht in die Verhältnisse und kluge Benützung der Menschen, und das kann ich natürlich nur, so lange ich meine Macht behaupte. Darin beruht meine Weisheit. Wollte ich Ihnen sagen, wen ich für weiser hielte, so würde ich selbst aufhören, weise zu sein. Und damit Gott befohlen! Übrigens’, rief er mir noch nach, ‚wenn Sie unter einem Weisen einen Kerl verstehen, der die Weisheit still für sich hinein mit Löffeln gegessen hat, so müssen Sie zu den Gelehrten gehen.’
Obgleich dies nun meine Ansicht von einem Weisen nicht ist, ging ich doch zu den Gelehrten, und zwar zu einem Philosophen; denn wer sich selbst einen Liebhaber der Weisheit nennt, der muß doch die Weisen kennen. Der Mann betrachtete mich aufmerksam.
,Was verstehen Sie überhaupt unter einem Weisen?’ fragte er mich.
,Ich verstehe darunter einen Mann’, sagte ich, ‚welcher die Welt kennt und in ihr lebt, aber nicht nach ihr strebt; welcher die Wahrheit sucht, ohne auf Ruhm zu hoffen; welcher die Menschen liebt und Gutes wirkt, aber nach Lohn und Dank nicht fragt; welcher niemand verachtet, weil er anders sei und anders denke als er; welcher glücklich ist, weil er frei ist, milde, weil er gut, und bescheiden, weil er groß ist.’
,Sie sagen mir da nichts Neues, lieber Herr’, erwiderte der Philosoph; ‚diese ethischen Qualitäten, welche Sie aufzählen, erstreben wir alle in gewissem Sinne; sie kommen durchaus nicht bloß irgend welchen hervorragenden Geistern zu. Aber eben darum besagt Ihre Definition zu viel. Sie werfen das Ideal eines Gelehrten und das Ideal eines Menschen zusammen. Das mochte zu einer Zeit statthaft sein, als die griechischen Sophoi lebten, Bildung nur wenig Bevorzugten zukam und die ganze Wissenschaft in nichts anderm bestand, als in ein wenig Lebensweisheit, verquickt allenfalls mit einigen mystischen Spekulationen à la Pythagoras. Aber heutzutage haben wir Teilung der Arbeit einerseits, Gleichberechtigung der Menschen andererseits. Weise sein, in Ihrem Sinne der Lebensweisheit, kann ein jeder, ohne gelehrt zu sein, und es kann jemand sehr gelehrt sein, ohne eine Spur von einem Sophos zu haben. Sie scheinen mir noch sehr unklare Begriffe von der Weisheit zu besitzen.’
,Ich bitte um Entschuldigung’, begann ich wieder, ‚aber Sie nennen sich einen Philosophen, und da ich doch diesen Namen einführte –’
, Sie führten ihn ein?’ Der Philosoph fixierte mich, er schien mich für etwas gestört zu halten.
,Ja’, sagte ich, ‚ich bin nämlich Pythagoras.’
,Mein Bester’, sagte der Philosoph, ‚kommen Sie zu sich. Das ist ja eine durchaus mythische Persönlichkeit!’
,Kurz und gut’, fuhr ich fort, ‚ich glaubte, Sie beschäftigten sich ausschließlich mit den Weisen – gibt es denn gar keine mehr? Ich hörte doch, es habe einer in Egmond gelebt und einer im Haag, einer auch in Königsberg?’
,Die sind lange tot’, sagte der Philosoph trocken. ‚Ich muß Sie sehr bitten, die Philosophie nicht fortwährend mit einer praktischen Anwendung ethischer Grundsätze zu verwechseln. Die Philosophie ist heutzutage eine Wissenschaft, und wenn Sie mein Buch gelesen hätten, so würden Sie das wissen.’
,Worüber schreiben denn aber meine Nachfolger, wenn nicht über die Weisheit?’ fragte ich.
,Über andere Philosophen!’ rief er. ‚Und ich rate Ihnen dringend, sich
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