Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Gesichtszüge ihrer Mutter, kindlich und doch deutlich wahrnehmbar. Vor allem die Nase sieht genauso aus wie heute.
»Du hast hier gelebt?«
Hailey dreht sich einmal um sich selbst und nimmt das Flair des Raumes in sich auf. Bevor der Zahn der Zeit sich an den Möbeln zu schaffen machte, muss es hier einmal wohnlich gewesen sein.
Vorsichtig geht Hailey auf ein Tuch zu unter dem zweifelsohne ein großer Sessel steckt.
»Darf ich?«
Eleonore nickt und Hailey zieht mit einem Ruck den Stoff herunter. Der aufwirbelnde Staub dringt in Haileys Nase und lässt sie husten.
Staunend betrachtet sie das braune, abgenutzte Leder. Vor allem an den Lehnen ist es schon ausgeblichen und speckig. Auf der Sitzfläche liegt ein beigefarbenes Kissen.
Eleonores Fingerspitzen gleiten liebevoll über den Stoff.
»Mein Papa hat hier früher immer gesessen«, erklärt sie. Ihr Blick ist in weite Ferne gerichtet. Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht Hailey. So sehr hat Eleonore noch nie ihre Fassade eingerissen.
So schnell dieser Augenblick völliger Nähe gekommen ist, so schnell verschwindet er auch wieder. Als wäre die Wolkendecke nur für einige Sekunden aufgerissen, um der Welt zu zeigen, wie warm und schön Sonnenstrahlen sein können.
Eleonore strafft die Schulter und greift in ihre Hosentasche. Sie zieht einige Münzen heraus und drückt sie Hailey in die Hand.
»Das Telefon ist gleich dort die Straße entlang. Der Strom hier dürfte nicht mehr funktionieren.«
Prüfend betätigt sie einen Lichtschalter an der Wand. Wie erwartet bleibt die Lampe dunkel. Hailey steckt das Kleingeld ein und verlässt das Haus. Sofort atmet sie erleichtert auf. Der schwere staubige Geschmack auf ihrer Zunge wird von einem kräftigen Windstoß fortgetragen. Der Geruch nach feuchter Erde und Wasser steigt ihr in die Nase. Unwillkürlich muss sie lächeln. Obwohl die Umstände gegen sie sprechen, findet sie diesen Ort wunderschön. Sie fühlt sich auf eine Art und Weise geborgen, wie sie es noch nie vorher gespürt hat.
Ein Eichhörnchen jagt den Weg entlang und verschwindet im Geäst der Weide. Mit einem zufriedenen Lächeln geht Hailey die Straße entlang. Das Telefon entdeckt sie schnell. Eine große, silberglänzende Säule mit einem Hörer und Tasten.
Klimpernd verschwinden die Münzen im Einwurf.
»Macy?«
»Hailey? Dir geht es gut?! Ihr geht es gut!«
Hailey hört, wie jemand erleichtert ausatmet.
»Bist du noch bei Caleb?«
»Ja, wir sind beide noch hier ... und haben auf deinen Anruf gewartet. Was war denn vorhin los?«
Nervös zwirbelt Hailey die Telefonschnur um ihren Finger.
»Meine Mutter hat den Stecker gezogen, weil sie Angst hatte, dass sie vielleicht abgehört wird.«
»Und wo bist du jetzt?«
Hailey schluckt. Sie weiß nicht, wie sie Macy ihren Aufenthaltsort erklären soll. Schließlich entscheidet sie sich für die kurze Variante:
»In einem der Randbezirke.«
Stille. Im Hintergrund ertönt eine aufgebrachte Stimme, aber Hailey kann kein Wort verstehen.
»Ach nichts«, erwidert Macy schnell. An ihrem Tonfall merkt Hailey, dass ihre beste Freundin ziemlich angespannt und genervt ist. »Caleb hat nur gerade einen halben Nervenzusammenbruch erlitten. Was machst du da draußen? Wie bist du da hingekommen?«
»Meine Mama ...«
»Bitte was?!«
»Jetzt lass mich doch mal ausreden«, zischt Hailey. »Meine Mama kommt von hier. Wir sind gemeinsam verschwunden, damit ich ihr in Ruhe die ganze Geschichte erzählen kann. Ich rechne damit, bald wieder zurück in der Stadt zu sein.«
Eigentlich weiß Hailey nicht, ob dies wirklich Eleonores Plänen entspricht. Aber sie bringt es nicht übers Herz, Macy etwas anderes zu sagen. »Wir sehen uns wirklich bald wieder«, fügt sie hinzu und könnte sich im gleichen Moment ohrfeigen. Sie weiß nicht einmal, was Eleonore vorhat.
»Was sollen wir solange machen?«
Haileys Gedanken rasen. Sie weiß, dass sie Caleb noch unbedingt etwas mitteilen wollte. Fieberhaft denkt sie nach und malträtiert dabei das Telefonkabel.
»Ihr müsst versuchen, Calebs Peilsender zu entfernen.«
»Peilsender?«, echot Macy und ruft damit ein lautes Stöhnen bei Caleb hervor.
»Ja.«
Plötzlich rauscht es und Hailey hält den Hörer verwirrt etwas von ihrem Ohr weg.
»Hailey?«
»Caleb?«
Schnell presst sie das Telefon wieder an sich. Ihr Herz rast.
»Wo ist der Peilsender?«
»Das weiß ich nicht«, gesteht Hailey.
»Wo war deiner?«
»Ich hatte keinen. Mat hat dafür gesorgt, dass ich
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