Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Eleonore nickt.
»Selbstverständlich.«
Den Rest der Fahrt verbringen sie schweigend, nur unterbrochen von Eleonores Fluchen über andere Verkehrsteilnehmer. Jedes Mal, wenn ein obszönes Wort die Lippen ihrer Mutter verlässt, stiehlt sich ein Lächeln auf Haileys Gesicht.
So hat sie die stets beherrschte Ärztin noch nie erlebt.
Schließlich verlassen sie das dichte Gedränge der Stadt.
Die Straße wird nun gesäumt von immer kleiner werdenden Gebäuden, bis sie schließlich den Wald durchqueren. Unbehaglich rutscht Hailey auf ihrem Sitz hin und her. Soweit war sie noch nie vom Stadtkern entfernt. Sie glaubt, ein Reh durch das Unterholz huschen zu sehen.
»Wohin führt diese Straße?«
»In einen der Randbezirke.«
Hailey schluckt. Die Randbezirke. Die Menschen dort sollen merkwürdig sein und nach alten Traditionen leben. Im Unterricht wurde nicht viel von ihnen gesprochen. Das Thema wurde zwar angerissen, aber nur um zu zeigen, wie gut es die Bewohner der Stadt haben. Haileys Wissen über den in Elend lebenden Teil der Gesellschaft ist begrenzt. Sie weiß, dass die Randbezirke das Traumkontrollmittel widerwillig annehmen und dort Aussätzige die Nahrung für die Stadt produzieren, mehr nicht. Laut ihren Schulbüchern sind die Häuser heruntergekommen und von menschlichem Abschaum bewohnt. Die Regierung akzeptiert ihre Existenz als Rohstofflieferanten und Mahnbeispiel für Leute, die rebellieren wollen.
»Sind die Randbezirke nicht stark bewacht?«
Eleonore kneift den Mund zusammen.
»Es gibt immer Mittel und Wege, dort hinein und hinauszukommen.«
»Wieso fliehen die Leute dann nicht?«
»Das wirst du schon sehen.«
Der Wald lichtet sich und gibt den Blick auf weite Felder frei, am Horizont bildet sich ein hoher Zaun ab. Als sie näherkommen erkennt Hailey Schilder, die darauf hinweisen, dass er unter Strom steht.
Eleonore hält direkt auf das Tor zu.
»Du willst mit einem Klinikflüchtling durch die Vordertür in einen Randbezirk tuckern? Bist du wahnsinnig?«, zischt Hailey und duckt sich.
Wortlos öffnet Eleonore das Handschuhfach und zieht eine kleine Karte heraus. Erst als sie das schwere Tor erreichen merkt Hailey, dass keine Wächter anwesend sind.
»Hier läuft alles automatisch«, erklärt Eleonore mit einem Lächeln. Sie öffnet das Fenster und hält die Karte vor einen Scanner.
»Willkommen Nummer 24021«, ertönt eine mechanische Stimme und das Rolltor öffnet sich.
»Nummer 20 – was?«
»24021. Mats Nummer.«
Hailey fragt nicht weiter nach, dennoch setzt ihre Mutter zu einer Erklärung an:
»Mat hat öfter in den Randbezirken gearbeitet und das Traumkontrollmittel ausgeliefert. Das hier ist seine Zweitkarte. Er meinte, ich dürfte sie im Notfall benutzen. Das hier ist ein Notfall.«
»Wieso solltest du in einen Randbezirk wollen?«
Hailey spürt, dass die Stimmung im Wagen sich verändert. Eleonores Haltung sinkt zusammen.
»Weil ich hier geboren wurde.«
Diese Nachricht trifft Hailey wie ein Faustschlag. Ihre Mutter stammt aus einem Randbezirk?
»Dein Großvater war damals der zuständige Arzt hier. Sein Sohn kam öfter mit, denn er sollte schließlich in die Fußstapfen seins Vaters treten. Ich erinnere mich noch daran, wie wir als Kinder miteinander spielten, während sein Vater meine Mutter untersuchte. Sie war schwer krank.«
Eleonores Hände zittern und sie umklammert das Lenkrad fester. Haileys Blick wandert nach draußen und plötzlich sieht sie alles mit anderen Augen.
Im Gegensatz zu den Stadtgebäuden sind die Häuser nicht so groß und imposant, als wollten sie den Himmel erreichen, sondern klein und gemütlich.
Viele von ihnen haben sogar eine Rasenfläche, auf welcher bunte Blumen blühen. Sie stellt sich vor, wie ihre Mutter als Kind über eine dieser Wiesen rannte und mit ihrem zukünftigen Mann Fangen spielte.
Der Wagen fährt jetzt langsam genug, damit Hailey Details erkennen kann. Eine Schaukel hängt an einem Baum, ein kleiner Junge geht mit seinem Hund spazieren.
Die Häuser wirken auf Hailey befremdlich und wie eine enorme Platzverschwendung. In den zweistöckigen Gebäuden können maximal fünf Personen wohnen. Auf der gleichen Fläche in der Stadt leben über hundert. Ein Bild blitzt vor Haileys Augen auf. Merkwürdigerweise erinnern sie diese kleinen Häuser an die Betonhölle.
»Ob es damals so dort ausgesehen hat?« , fragt sie sich.
Nur schwer kann sie sich vorstellen, dass ihre Mutter hier aufgewachsen ist. Für sie ist Eleonore der
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