Traummann auf Raten
flüsterte sie. „Wie dumm von mir.“
„Trotz der bitteren Worte von damals würde Gabriel bei einem solchen Anlass niemals fehlen. Lionel wurde von den Leuten in der Umgebung respektiert und geliebt, und jedes Anzeichen von Missachtung – insbesondere seitens seines Erben – würde unweigerlich Abneigung hervorrufen.“
„Ja, natürlich.“ Sie lachte bitter. „Ich wusste nicht, dass er so viel Wert auf Konventionen legt.“
„Gabriel ist jetzt der Besitzer von Westroe Manor. Er kennt seine Pflichten.“
„Diesen Begriff würde ich nicht unbedingt mit meinem ehemaligen Mann in Verbindung bringen.“ Sie bemerkte die missbilligende Miene des Anwalts und setzte sich wieder. „Entschuldigung. Ich bin ein bisschen durcheinander, das ist alles. Eigentlich hatte ich gedacht, dass mir vor seiner Rückkehr mehr Zeit bleiben würde, um über meine Pläne zu entscheiden.“
„Was schwebt Ihnen denn vor?“
„Ich weiß es selbst nicht.“ Joanna seufzte. „Ich versuche ständig, mir über meine Zukunft klar zu werden, aber meine Gedanken drehen sich im Kreis.“
„Es ist noch sehr früh dafür.“
„O nein. Sie haben mir gerade bewiesen, dass es später ist, als ich dachte. Ich muss mich auf dieses Problem konzentrieren.“ Sie atmete tief durch. „Haben Sie gehört, wann Gabriel eintreffen wird?“
„Ich glaube, er will übermorgen kommen“, erklärte Henry Fortescue. „Er hat darum gebeten, mit der Testamentseröffnung bis nach der Beerdigung zu warten.“
„Wie traditionsbewusst.“ Sie faltete die zitternden Hände im Schoß. „Er beabsichtigt also tatsächlich, den Herrn des Hauses zu spielen.“
„Daran bestand meiner Meinung nach nie der geringste Zweifel.“ Er trank seinen Whisky aus und stellte das Glas beiseite. „Soll ich Ihren Brief immer noch weiterleiten?“
„Unter diesen Umständen ist es vermutlich einfacher, wenn ich es selbst erledige. Es tut mir Leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe.“
„Das tun Sie doch nie, Joanna.“ Während er ihr die Hand schüttelte, betrachtete er ernst ihr blasses Gesicht. „Zu guter Letzt ein Rat von mir. Legen Sie den Namen Ihres Ehemannes nicht zu überstürzt ab, gedulden Sie sich wenigstens bis nach der Beisetzung. Vergessen Sie nicht die Meinung der Einheimischen. Die nächsten Tage werden für Sie schwer genug sein, auch ohne zusätzliche Schwierigkeiten, wie Kritik heraufzubeschwören.“
„Ja“, flüsterte sie. „Da haben Sie sicher Recht. Danke.“
„Ich finde allein den Weg hinaus.“ Nach einer kurzen Verbeugung verließ der Anwalt das Zimmer. Kurz darauf hörte sie ihn mit Mrs. Ashby sprechen, und dann fiel die Vordertür ins Schloss.
Joanna lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Inzwischen zitterten nicht mehr nur ihre Hände, sondern ihr ganzer Körper. Der Schock über Lionels plötzlichen Tod hatte sie für die unausweichlichen Konsequenzen blind gemacht.
Da Gabriel seit über zwei Jahren nicht mehr auf Westroe Manor gewesen war und den Bruch zwischen ihnen mehr oder minder offiziell vollzogen hatte, war sie zu dem Schluss gelangt, dass er sich mit der Rückkehr Zeit lassen würde. Dass er viel zu sehr damit beschäftigt sei, tagsüber den Superman der Finanzwelt und nachts den Playboy zu spielen, um sich mit seinem alten Heim zu befassen, zumal dort seine ungeliebte und verstoßene Ehefrau lebte.
Weiß er überhaupt, dass ich noch immer hier wohne? Überlegte sie. Oder dass ich für seinen Vater den Haushalt geführt und das Personal beaufsichtigt habe?
Natürlich weiß er es, sagte sie sich resigniert. Gabriels Lebensinhalt ist es, über alles und jeden informiert zu sein.
Unvermittelt erschien sein Bild vor ihrem geistigen Auge: ein schmales, sonnengebräuntes Gesicht mit goldbraunen Augen und sinnlichen Lippen … Rasch verdrängte sie die Erinnerung. Sie wollte jetzt nicht an Gabriels Mund denken oder an seine Hände oder gar an seinen schlanken, durchtrainierten Körper, mit dem er sie besessen hatte.
Die Ereignisse der wenigen gemeinsamen Nächte mit ihm hatten sich ihr unauslöschlich eingeprägt, egal, wie sehr sie sich auch bemühte, sie zu vergessen. Genauso wie die verächtlichen Worte, mit denen er ihre Ehe beendet hatte.
„Ich werde uns beiden einen Gefallen tun und mir eine andere Form der Unterhaltung suchen.“ Sein eisiger Tonfall hatte ihre aufgewühlten Sinne wie ein Peitschenhieb getroffen.
Und er hat Wort gehalten, dachte sie bitter. Er hatte kein Geheimnis aus seinen Seitensprüngen
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