Traummoerder
auch sein mag – sie ist nicht Giselle. Sie versteht meine Diktion einfach nicht so gut.« Er grinste verschmitzt. »Wenn du vorhast, das jemals an Neela zu verraten, muss ich dich …«
»Musst du mich töten. Ein uralter Witz.« Sie trank ihr Glas aus. »Sieh mal, Dermot – ich weiß, dass du nach Giselles Tod eine schwere Zeit durchgemacht hast. Ihr beide wart das beste literarische Team, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeiten durfte. Und ich weiß, wie nah ihr euch gestanden habt. Aber es wird Zeit, dass du weitermachst und begreifst, dass die Chancen, noch einmal eine Lektorin ihres Kalibers zu finden, eins zu tausend stehen. Neela ist gut, wenn auch ein wenig amateurhaft. Ich denke sehr wohl, dass sie deine Diktion versteht; du musst ihr nur etwas geben, womit sie arbeiten kann.«
Dermot nickte. Das stimmte alles. Das Jahr, in dem er mit Giselle zusammengearbeitet hatte, war großartig gewesen. Jeder Tag mit ihr war ein Festtag. Wäre er zu der Zeit nicht verrückt nach Neela gewesen, hätte er sich Hals über Kopf in Giselle verliebt. Wahrscheinlich hatte er das auch so getan und seine Gefühle vor sich selbst verleugnet. Und da war dieser eine Abend …
»Wie hält sich Nick eigentlich?« Esther holte Dermot zurück in die Wirklichkeit, in eine Wirklichkeit, die nicht nach Bulgaris White Tea duftete.
»Er begräbt seinen Kummer in Arbeit. Er handelt noch immer mit Kunst. Allerdings nur auf Kommission. Er wird im Auftrag von Leuten tätig, die mehr Geld haben, als sie in drei Menschenleben ausgeben können. Und dabei sackt er selbst ganz schöne Summen ein. Es scheint ihm recht gut zu gehen. Aber vielleicht rudert er ja unter der Wasseroberfläche wild herum. Wer weiß?«
»Und ertrinkt, ohne sich bemerkbar zu machen? Hoffentlich nicht. Ich habe großen Respekt vor ihm. Er ist großartig mit ihrem Tod umgegangen. Und dann noch die Tragödie mit den Zwillingen!«
Dermot war froh, Esther auf ein anderes Thema gebracht zu haben. Doch jetzt verstummte sie. Er setzte sein Glas an die Lippen, ehe er merkte, dass es längst leer war. Esther starrte ihn unverwandt an. Irgendwann richtete sie den Blick auf Dermots Kroko-Aktentasche, die nicht richtig geschlossen war. Sie entdeckte ein Manuskript – Dermot hatte Arnolds Tagebuch mitgenommen, um in der U-Bahn darin zu lesen.
»Ist das der erste grobe Entwurf, von dem du gesprochen hast – der, den ich nicht zu Gesicht bekommen soll?«
Er ergriff die Gelegenheit, sich herauszureden, beim Schöpfe, auch wenn er auf Dauer nicht damit durchkam. Zumindest konnte er ein wenig Zeit gewinnen.
»Um ehrlich zu sein, ja«, log er.
Esther streckte die Hand aus. »Darf ich?«
»Mir wäre es lieber, du würdest dir das nicht ansehen. Wie gesagt – der Text ist nicht ausgreift und noch nicht einmal für deine Augen geeignet.«
»Nicht einmal für meine Augen? Demnach bin ich eine unterbelichtete Literaturagentin, die nicht zwischen einem groben Entwurf und einer letzten Fassung unterscheiden kann?«
»Nein, nein. Das hast du vollkommen falsch verstanden. Diese Kapitel sind nicht gut genug für dich. Ich möchte dich mit etwas Großartigem überraschen, und ich verspreche dir, du wirst nicht enttäuscht. Das kannst du Dan ausrichten – es wird wie die Lizenz zum Gelddrucken.«
»Warum hast du das Manuskript dann mitgebracht?«
»Manchmal fällt mir etwas Besseres ein, und ich notiere meine Gedanken für eine Neufassung gleich an der richtigen Stelle.«
»Das verstehe ich. Also darf ich mir den Text jetzt nicht ansehen, oder? Bist du sicher, dass ich nicht einmal einen klitzekleinen Blick darauf werfen kann?«
»Lieber nicht. Vertrau mir, Esther.«
Sie musste sich die vorübergehende Niederlage eingestehen. »Also schön. Ich halte dir Dan für weitere drei Monate, so gut ich kann, vom Leibe. Dann muss ich etwas sehen. Basta. Sorg dafür, dass der Text bis dahin fertig ist, okay?«
Was sollte er darauf sagen? »Klar, Esther. Drei Monate.«
Dermot nahm die Red Line von Wilshire/Normandie nach Hause. Eigentlich hatte er keine Lust auf Arnolds Tagebuch, doch da er die LA Times schon vorher gelesen hatte, nahm er widerwillig das Manuskript aus seiner Aktentasche und blätterte zu der Stelle, an der er aufgehört hatte.
»Meine Absicht war, Leid über andere zu bringen, und zwar im selben Maße, wie ich es erdulden musste. Für alle, die mit Mühsal beladen sind, kommt die Erlösung. Leid bringt Erlösung. Kein Mensch weiß, was echte Qualen sind, wenn er nie
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