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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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Vulkan in Kenia, gibt es lange Lavatunnel, in deren Tiefe Leoparden leben und in deren Eingang Paviangruppen nachts Zuflucht suchen. Die Leoparden haben eine lebende Speisekammer an ihrer eigenen Eingangstür.
    Im Transvaal sind die Winternächte kalt: so kalt, daß die Anzahl der Paviane im High Veldt durch die Anzahl von Höhlen und Schlupfwinkeln, in denen sie schlafen können, begrenzt ist. Zur Zeit der ersten Eiszeit hat es möglicherweise hundert Frostnächte im Jahr gegeben. Und stellen wir uns jetzt den robustus in der Kälte vor: Wanderer, die im Sommer ins Hochland zogen und im Winter die Täler aufsuchten, ohne Mittel, sich zu wehren, bis auf die eigene rohe Kraft; ohne Feuer; ohne Wärme, bis auf die ihrer eigenen zusammengedrängten Körper; nachtblind und doch gezwungen, ihre Unterkunft mit einer funkeläugigen Katze zu teilen, die hin und wieder hinausschlich, um sich einen versprengten Bummelanten zu schnappen.
    Die zweite Hypothese macht uns mit einem Gedanken vertraut, bei dem sich einem der Kopf dreht.
    Könnte es sein, fragt Brain, daß der Dinofelis ein auf Primaten spezialisierter Räuber war?
    »Die Verbindung von einer robusten Kinnlade«, schreibt er, »mit einem gutentwickelten Gebiß hätte es dem Dinofelis ermöglicht, alle Teile eines Primatenskeletts zu verzehren, ausgenommen den Schädel. Die Hypothese, daß Dinofelis ein auf Primaten spezialisierter Mörder war, hat einiges für sich.«
    *
    Könnte es sein, so möchte man fragen, daß der Dinofelis unser »wildes Tier« war? Ein wildes Tier, das sich von allen anderen Inkarnationen der Hölle unterschied? Das Tier aus der Apokalypse, der Erzfeind, der uns heimlich und hinterlistig folgte, wohin immer wir gingen? Den wir am Ende jedoch zu Fall brachten?
    Im König Lear heißt es: »Der Fürst der Finsternis ist ein Edelmann.« Verführerisch an einem spezialisierten räuberischen Lebewesen ist der Gedanke an die Nähe zwischen uns und dem wilden Tier. Denn wenn es ursprünglich ein besonderes Tier war, haben wir es dann nicht so faszinieren wollen, wie es uns faszinierte? Haben wir es nicht bezaubern wollen, wie die Engel die Löwen in Daniels Grube bezauberten?
    Die Schlangen, Skorpione und anderen bedrohlichen Kreaturen der Savanne – die sich neben ihrer zoologischen Realität einer zweiten Existenz in den Höllen der Mystiker erfreuten – hätten unser Leben als solches nie bedrohen, hätten nie das Ende unserer Welt verkünden können. Ein spezialisierter Killer dagegen konnte es – und deshalb müssen wir ihn trotz der unsicheren Beweislage ernst nehmen.
    »Bob« Brains Leistung besteht in meinen Augen darin – einerlei, ob wir uns eine große Raubkatze, mehrere Wildkatzen oder ein Scheusal wie die Jägerhyäne vorzustellen haben –, eine Gestalt neu eingeführt zu haben, deren Erscheinung seit dem Ende des Mittelalters immer mehr verblaßte: den Fürsten der Finsternis in all seiner düsteren Herrlichkeit.
    Ohne die Grenzen wissenschaftlicher Genauigkeit zu verletzen (wie ich es zweifellos getan habe), hat er die Geschichte eines außerordentlichen Sieges ans Licht gebracht – eines Sieges, auf den wir vielleicht noch bauen können –, in dem der Mensch durch seine Menschwerdung die Mächte der Zerstörung bezwang.
    Denn plötzlich ist in den höheren Schichten von Swartkrans und Sterkfontein der Mensch zugegen. Er hat die Oberhand, und die räuberischen Tiere sind nicht mehr bei ihm.
    Verglichen mit diesem Sieg mögen einem unsere übrigen Errungenschaften geradezu läppisch vorkommen. Man könnte sagen, daß wir eine Spezies auf Urlaub sind. Doch vielleicht mußte es ein Pyrrhussieg sein: Ist nicht die ganze Geschichte eine Suche nach falschen Ungeheuern gewesen? Eine nostalgische Sehnsucht nach dem wilden Tier, das wir verloren haben? Wir müssen dem Fürsten dankbar sein, der sich mit einer eleganten Verbeugung verabschiedet hat. Die Welt sollte noch ungefähr bis zum zehnten Jahrtausend vor Christus auf die erste Waffe warten müssen – als Kain seinem Bruder mit der Hacke den Schädel einschlug.

34
    R olf und ich nahmen einen abendlichen Drink, als eine von Estrellas Krankenschwestern herübergelaufen kam und sagte, am Funktelefon sei ein Mann. Ich hoffte, daß es Arkady sei. Nach all der Schreiberei sehnte ich mich danach, ihn auf seine erfrischende, besonnene Art reden zu hören.
    Wir eilten beide zur Ambulanz, um festzustellen, daß nicht ein Mann im Äther war, sondern eine Frau mit einer sehr barschen Stimme:

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