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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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ersten Menschen entwickelte: die Dornenkrone war keine zufällige Krone.
    *
    »Der Mensch«, sagte Elizabeth Vrba, »wurde in Not geboren. Not ist in diesem Fall die Dürre.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß der Mensch in der Wüste geboren ist?«
    »Ja«, sagte sie. »In der Wüste. Oder zumindest in der Halbwüste.«
    »Wo man sich nie auf Wasserstellen verlassen konnte?«
    »Ja.«
    »Aber es waren eine Menge Raubtiere in der Nähe?«
    »Einem Karnivoren ist es gleichgültig, wo er lebt, solange er sein Fleisch bekommt. Es muß schrecklich gewesen sein!«
    Die Geschichte der Evolution ist eine Geschichte des »Wettrüstens« zwischen Räuber und Beute, da die natürliche Auslese der Beute mit den besten Verteidigungsmechanismen und den Räubern mit den besten Mordwerkzeugen den Vorzug gibt.
    Eine Schildkröte zieht sich in ihren Panzer zurück. Ein Igel sträubt seine Stacheln. Ein Nachtfalter tarnt sich an der Baumrinde, und ein Kaninchen saust in einen Bau, der zu eng ist, als daß der Fuchs ihm folgen könnte; der Mensch dagegen war in einem Flachland ohne Bäume wehrlos. Der robustus reagierte darauf, indem er sich mehr Muskeln zulegte. Wir benutzten unser Gehirn.
    *
    Es sei unsinnig, fuhr Dr. Vrba fort, das Erscheinen des Menschen in einem Vakuum zu untersuchen, ohne gleichzeitig das Schicksal anderer Arten in demselben Zeitraum zu berücksichtigen. Tatsächlich fand vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren, zur selben Zeit, als der Mensch seinen gewaltigen »Sprung« machte, eine »ungeheure Umwälzung der verschiedenen Spezies« statt.
    »Unter den Antilopen«, sagte sie, »war plötzlich die Hölle los.«
    In ganz Ostafrika machten die eher seßhaften grasenden Tiere den »klügeren«, wandernden Grasfressern Platz. Für eine seßhafte Existenz gab es einfach keine Grundlage mehr.
    »Und seßhafte Arten«, sagte sie, »sind wie seßhafte Gene eine Zeitlang unerhört erfolgreich, doch am Ende zerstören sie sich selbst.«
    In Trockenzonen können die Ressourcen von einem Jahr zum anderen variieren. Durch ein vereinzeltes Gewitter kann vorübergehend eine grüne Oase entstehen, während nur wenige Kilometer entfernt das Land verdorrt und unfruchtbar bleibt. Um die Dürre zu überleben, muß jede Art eins von zwei Strategemen anwenden: mit dem Schlimmsten rechnen und sich vergraben oder sich der Welt öffnen und weiterziehen.
    Einige Samen in der Wüste liegen jahrzehntelang brach. Einige Nagetiere in der Wüste kommen nur nachts aus ihren Erdlöchern hervor. Die Weltwitchia, eine außergewöhnliche Pflanze der Namibischen Wüste mit bandförmigen Blättern, lebt jahrtausendelang von ihrer täglichen Nahrung aus Morgentau. Aber wandernde Tiere müssen aufbrechen – oder zum Aufbruch bereit sein.
    An einem Punkt des Gesprächs sagte Elizabeth Vrba, Antilopen würden durch den Blitz zum Weiterziehen angeregt.
    »Genauso wie die Buschmänner in der Kalahari«, sagte ich. »Auch sie ›folgen‹ dem Blitz. Denn wo der Blitz war, wird es Wasser, Grün und Wild geben.«
    *
     
    Wenn ich meine Füße ruhen lasse, hört auch mein Kopf auf zu funktionieren.
    J.G. Hamann
    Die Sprachfähigkeit des Homo habilis hat sich möglicherweise auf Grunzen, Heulen und Zischen beschränkt: wir werden es nie wissen. Ein Gehirn überlebt den Versteinerungsprozeß nicht. Doch hinterlassen seine Konturen und Merkmale ihre Spuren im Innern des Schädels. Man kann Ausgüsse vornehmen und diese »Endocranialausgüsse« nebeneinanderstellen und miteinander vergleichen.
    Paris, Musée de l’Homme, 1984
    In seinem sorgfältig aufgeräumten Büro hatte Professor Yves Coppens – einer der führenden Köpfe auf dem Gebiet des fossilen Menschen – eine Reihe solcher Endocranial ausgüsse nebeneinandergestellt; der Augenblick, in dem er vom Australopithecus zum Menschen überging, löste in mir das Gefühl aus, etwas bestürzend Neues vor mir zu haben.
    Nicht nur vergrößert sich das Gehirn (um fast die Hälfte), auch seine Form ändert sich. Die Scheitelbein- und Schläfenbeinregion – wo sich das sensorische Zentrum und das Erinnerungsvermögen befinden – entwickeln sich und werden viel komplizierter. Das Brocasche Hirnrindenfeld, das eng mit dem Sprachvermögen zusammenhängt, taucht zum erstenmal auf. Die Membranen verdichten sich. Die Synapsen vermehren sich – wie auch die Venen und Arterien, die das Gehirn durchbluten.
    Auch im Mund finden größere strukturelle Veränderungen statt, vor allem an der Innenseite des Unterkiefers, wo

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