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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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die Zunge auf den Gaumen trifft. Und da der Mensch nun einmal das sprachbegabte Wesen ist, läßt sich schwer einsehen, wozu diese Veränderungen dienen sollten, wenn nicht der Sprache.
    Die nachfolgenden Stadien der menschlichen Evolution – über den Homo erectus zum Homo sapiens sapiens – berechtigen laut Coppens noch nicht dazu, von einer gesonderten Spezies zu sprechen. Vielmehr sollten sie als Abwandlungen des Urmodells, des Homo habilis, angesehen werden.
    »Eine langjährige Beschäftigung mit dem Homo habilis«, schreibt er in dem Buch Die Wurzeln des Menschen, »bringt mich jedoch zu der Ansicht, daß wir es ihm verdanken, uns die Frage vorgelegt zu haben, wer wir waren, woher wir ka men und wohin wir gingen. Sein plötzlicher Siegeszug … scheint mir so glanzvoll, so außergewöhnlich und so neu, daß ich mich für diese Spezies, diese Epoche und diese Gegend der Welt bereitwillig entscheiden würde, um ihnen das Aufkommen des Denkprozesses und der Sprache zuzuweisen.«
    *
    »Ich weiß, daß es wie an den Haaren herbeigezogen klingt«, sagte ich zu Elizabeth Vrba, »aber wenn man mich fragen würde: ›Wozu ist das Großhirn da?‹, wäre ich versucht zu antworten: ›Damit wir unseren Weg durch die Wildnis singen.‹«
    Sie wirkte leicht verwundert. Dann öffnete sie eine Schublade in ihrem Schreibtisch und holte ein Aquarell hervor: die Impression eines Künstlers von der Familie des ersten Menschen, die mit ihren Kindern im Gänsemarsch durch leeres offenes Land wandert.
    Sie lächelte und sagte: »Auch ich glaube, daß die Hominiden wanderten.«
    *
    Wer aber war dann der Mörder in der Höhle?
    Leoparden ziehen es vor, ihre Beute in möglichst finsteren Schlupfwinkeln zu verzehren. Und in einem frühen Stadium seiner Untersuchungen glaubte Brain, daß sie für das Gemetzel verantwortlich seien – was sie, zum Teil, auch gewesen sein mochten.
    Neben anderen Fossilien im Roten Raum zeigte er mir den unvollständigen Schädel eines jungen männlichen Homo habilis. In der Nähe der Stirn gibt es Anzeichen für einen Gehirntumor: vielleicht war er der »Idiot der Familie«. An der Basis befinden sich zwei etwa drei Zentimeter auseinanderliegende, exakt plazierte Löcher. Dann nahm Brain den versteinerten Schädel eines Leoparden, der in derselben Gesteinsschicht gefunden worden war, und zeigte mir, daß die unteren Eckzähne genau in die beiden Löcher paßten. Ein Leopard schleppt seine Beute davon, indem er den Schädel mit seiner Kinnlade umschließt – so wie die Katze eine Maus trägt.
    Die Löcher waren genau an der richtigen Stelle.
    *
    Bhimtal, Kumaon, Indien
    Eines Nachmittags besuchte ich den schiwaistischen Sadhu in seiner Einsiedelei auf dem gegenüberliegenden Berg. Er war ein sehr heiliger Mann, der meine Spende von ein paar Rupien nahm und sie ehrerbietig in den Saum seines orangeroten Gewands wickelte. Er saß mit überkreuzten Beinen auf seinem Leopardenfell. Sein Bart wallte über seine Knie, und die Kakerlaken krochen daran auf und ab, während er das Wasser für den Tee kochte. Unterhalb der Einsiedelei war eine Leopardenhöhle. In mondhellen Nächten kam der Leopard in den Garten, und er und der Sadhu blickten einander an.
    Doch die älteren Leute im Dorf konnten sich noch mit Entsetzen an die Zeit der »Menschenfresser« erinnern, als man selbst hinter verriegelten Türen nicht sicher war.
    In Rudraprayag, nördlich von hier, hat ein Menschenfresser über 125 Personen verzehrt, bevor er von Jim Corbett erschossen wurde. In einem Fall drückte das Tier eine Stalltür ein, kroch über oder unter den Leibern von vierzig Ziegen hinweg, ohne auch nur eine anzurühren, und schnappte sich schließlich den jungen Ziegenhirten, der allein in der hintersten Ecke der Hütte schlief.
    *
    Transvaal-Museum
    Ein Leopard wird gewöhnlich – wenn auch nicht immer – infolge eines Zufalls, aufgrund eines fehlenden Eckzahns zum Beispiel, zum Menschenfresser. Aber hat das Tier erst einmal Geschmack an Menschenfleisch gefunden, rührt es kein anderes mehr an.
    Als Brain sich anschickte, die Prozentsätze von Primatenfossilien zu addieren, das heißt von Pavianen und Homini den sowohl im »robusten« Stadium von Swartkrans als auch im africanus- Stadium von Sterkfontein, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß die Knochen von Primaten 52,9 Prozent beziehungsweise 69,8 Prozent der gesamten Beute ausmachten. Antilopen und andere Säugetiere stellten den Rest. Welches Tier (oder welche Tiere)

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