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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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Eileen Houston vom Aborigine-Kunstbüro in Sydney.
    »Hat Winston sein Bild fertig?« brummte sie.
    »Ja«, sagte Rolf.
    »Okay. Sage ihm, daß ich Punkt neun da bin.«
    Die Leitung war tot.
    »Das Luder«, sagte Rolf.
    Winston Japurula, der »wichtigste« Künstler, der in Cullen arbeitete, hatte vor knapp einer Woche ein größeres Bild fertiggestellt und wartete darauf, daß Mrs. Houston kam und es ihm abkaufte. Wie so viele Künstler war er mit Geld sehr großzügig und hatte im Laden hohe Schulden gemacht.
    Mrs. Houston, die sich als »die erste Autorität unter den Händlern für Aborigine-Kunst« bezeichnete, hatte die Gewohnheit, in die Siedlungen zu fahren und bei ihren Künstlern nach dem Rechten zu sehen. Sie brachte ihnen Farbe, Pinsel und Leinwand mit und bezahlte fertige Arbeiten mit einem Scheck. Sie war eine sehr entschlossene Frau. Sie übernachtete immer im Busch, allein – und war nie nicht in Eile.
    Am nächsten Morgen saß Winston mit gekreuzten Beinen und nackt bis zum Gürtel auf einem Flecken ebener Erde neben den Benzinkanistern und wartete auf sie. Er war ein alternder Lüstling. Aus seinen farbbeklecksten Shorts quollen Fettwülste hervor, und er hatte einen riesigen Mund mit herabhängenden Mundwinkeln. Seine Söhne und Enkel trugen den Stempel seiner großartigen Häßlichkeit. Er zeichnete ein Ungeheuer auf ein Stück Pappe. Durch Osmose hatte er sich das Temperament und die Manieriertheit des Lower West Broadway zu eigen gemacht.
    Sein »Polizist« oder Ritualmanager, ein jüngerer Mann in braunen Hosen namens Bobby, war zur Stelle, um zu verhindern, daß Winston heiliges Wissen ausplauderte.
    Um Punkt neun sahen die Jungen Mrs. Houstons roten Landcruiser über die Rollbahn näher kommen. Sie stieg aus, ging auf die Gruppe zu und ließ ihre Schenkel auf einen Campingstuhl fallen.
    »Morgen, Winston«, nickte sie ihm zu.
    »Morgen«, sagte er, ohne sich zu rühren.
    Sie war eine umfangreiche Frau in einem beigefarbenen »Kampfanzug«. Ihr scharlachroter Sonnenhut war wie ein Tropenhelm tief über ihren ergrauenden Lockenkopf gezogen. Ihre bleichen, von der Hitze angegriffenen Wangen liefen in einem sehr spitzen Kinn aus.
    »Worauf warten wir?« fragte sie. »Ich glaubte, ich wäre gekommen, um ein Bild zu sehen.«
    Winston spielte mit seinem Haarband, und mit einem Wink wies er seine Enkel an, das Bild aus dem Laden zu holen.
    Sechs von ihnen kamen mit einer großen, aufgezogenen Leinwand zurück, die etwa zweieinhalb auf zwei Meter groß und mit einer durchsichtigen Plastikhülle gegen Staub geschützt war. Sie setzten das Bild übertrieben vorsichtig auf dem Boden ab und packten es aus.
    Mrs. Houston blinzelte. Ich beobachtete, wie sie ein freudiges Lächeln unterdrückte. Sie hatte Winston beauftragt, ein »weißes« Bild zu malen. Aber dieses übertraf, so glaube ich, alle ihre Erwartungen.
    Sehr viele Aborigine-Künstler malten in grellen Farben. Hier waren schlicht sechs weiße bis gelbweiße Kreise, sorgfältig in »pointillistischen« Punkten gemalt, auf einem zwischen Weiß, Bläulichweiß und dem hellsten Ockergelb variierenden Hintergrund. Zwischen den Kreisen verliefen mäandrische Schlangenlinien, in einem gleichermaßen hellen Lilagrau.
    Mrs. Houstons Lippen bewegten sich. Man konnte beinahe hören, wie sie in ihrem Kopf kalkulierte. Eine weiße Galerie … eine weiße Abstraktion … Weiß auf Weiß … Malewitsch … New York …
    Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm sich zusammen.
    »Winston!« Sie zeigte mit einem Finger auf die Leinwand.
    »Jaah.«
    »Winston, du hast nicht das Titanweiß benutzt, obwohl ich es dir ausdrücklich gesagt habe! Was für einen Sinn hat es, daß ich teure Farbe kaufe, wenn du sie nicht einmal benutzt? Du hast Zinkweiß benutzt, stimmt’s? Antworte mir!«
    Winston reagierte, indem er seine Arme vor dem Gesicht verschränkte und durch einen Spalt spähte, wie ein Kind beim Versteckspiel.
    »Hast du das Titanweiß benutzt, ja oder nein?«
    »NEIN!« rief Winston, ohne die Arme zu senken.
    »Hab’ ich’s mir doch gedacht!« sagte sie und hob befriedigt das Kinn.
    Dann blickte sie wieder auf die Leinwand und entdeckte einen winzigen, kaum einen Zentimeter langen Riß am Rand eines der Kreise.
    »Und sieh her!« schrie sie. »Du hast sie zerrissen. Winston, du hast die Leinwand zerrissen ! Weißt du, was das bedeutet? Dieses Bild muß verstärkt werden. Ich werde dieses Bild zum Restaurieren nach Melbourne schicken müssen.

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