Traumpfade
Sprechversuche bemerke, ihm die »Dinge« des jeweiligen Landes in die Hand geben: Blätter, Früchte, Insekten und so weiter.
Das Kind an der Brust seiner Mutter wird mit dem »Ding« spielen, zu ihm sprechen, seine Zähne an ihm erproben, seinen Namen lernen, seinen Namen wiederholen – und es schließlich wegschieben.
»Wir geben unseren Kindern Gewehre und Computerspiele«, sagte Wendy. » Sie geben ihren Kindern das Land.«
Die erhabenste Aufgabe der Dichtkunst ist, den empfin dungslosen Gegenständen Empfindungen und Leiden schaft zu leihen; und es ist eine Eigenschaft der Kinder, leblose Dinge in die Hand zu nehmen und spielend mit ihnen zu sprechen, als wären es lebende Personen … Dieser philo logisch-philosophische Grundsatz beweist, daß die Men schen der kindlichen Welt von Natur erhabene Dichter waren …
Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft, XXXVII
Die Menschen lassen den großen Leidenschaften Lauf, indem sie in Gesang ausbrechen, wie man es bei solchen erprobt, die von höchstem Schmerz oder höchster Freude ergriffen sind.
Vico, Die neue Wissenschaft, LIX
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Die alten Ägypter glaubten, daß der Sitz der Seele in der Zunge liege: die Zunge war ein Paddel oder ein Steuerruder, mit dem ein Mensch seinen Weg durch die Welt steuerte.
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»Primitive« Sprachen bestehen aus sehr langen Wörtern voll schwieriger Laute, und sie werden eher gesungen als gesprochen … Die ersten Wörter sind für die Wörter von heute das, was der Plesiosaurier und der Gigantosaurier für die Reptile unserer Tage sind.
O. Jesperson, Die Sprache, ihre Natur, Entwicklung und Entstehung
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Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts, wie der Gartenbau, älter als der Acker; Malerei, – als Schrift; Gesang, – als Deklamation; Gleichnisse, – als Schlüsse; Tausch, – als Handel.
J.G. Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten
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Alle leidenschaftliche Sprache wird von selbst musikalisch – mit einer feineren Musik als der reinen Aussprache; die Sprache wird sogar im hitzigen Zorn ein Lied, ein Gesang.
Thomas Carlyle, zitiert in Jespersen, Die Sprache …
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Die Worte entquellen freiwillig, ohne Not und Absicht, der Brust, und es mag wohl in keiner Einöde eine wandernde Horde gegeben haben, die nicht schon ihre Lieder besessen hätte. Denn der Mensch, als Tiergattung, ist ein singendes Geschöpf, aber Gedanken mit den Tönen verbindend.
Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts
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Laut Strehlow bedeutet das Aranda-Wort tnakama »beim Namen rufen« und ebenfalls »vertrauen« und »glauben«.
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Eigentliche Dichtung ist niemals nur eine höhere Weise (Melos) der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus dem kaum noch ein Rufen erklingt.
Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache
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Richard Lee errechnete, daß ein Buschmann-Kind über eine Distanz von 4900 Meilen getragen wird, ehe es selbst zu laufen beginnt. Da es im Verlauf dieser rhythmischen Phase unaufhörlich den Inhalt seines Territoriums benennt, ist es unmöglich, daß es nicht zum Dichter wird.
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Proust erinnert uns scharfsinniger als jeder andere Schriftsteller daran, daß die »Wanderungen« in der Kindheit das Rohmaterial unserer Intelligenz formen:
… jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir heute zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor. Die Gegend nach Méséglise zu mit ihren Fliederbüschen, den Weißdornhecken, den Kornblumen und dem Mohn, den Apfelbäumen, die Gegend von Guermantes mit dem Fluß, mit Kaulquappen, Seerosen und dem Hahnenfuß haben für alle Zeiten das Antlitz des Landes geprägt, in dem ich leben möchte … und die Kornblumen, der Weißdorn, die Apfelbäume, die ich zufällig, wenn ich reise, auf den Feldern sehe, knüpften, weil sie auf der gleichen Höhe oder Tiefe mit meiner Vergangenheit gelegen sind, sofort mit meinem Herzen eine Verbindung an.
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Einer allgemeinen Regel der Biologie zufolge sind die migratorischen Arten weniger »aggressiv« als die seßhaften.
Es liegt auf der Hand, warum das so sein muß. Die Migration selbst ist, wie auch die Pilgerreise, eine für alle gleichermaßen beschwerliche Reise – die »Tüchtigen« werden überleben und die Nachzügler am Wegrand zurückbleiben.
Deshalb setzt die Reise zwangsläufig Hierarchien und die Demonstration von
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