Traumpfade
schrägstehende Bakkenknochen. Ein dunkles Haardreieck war in seinem Hemdausschnitt sichtbar. Seine ausgebeulten Hosen waren in der Taille gegürtet und sahen so aus, als wären sie mehrere Nummern zu groß.
Die Frau war größer und hatte eine gute Figur. Sie trug ein schlichtes Hängekleid, und ihr farbloses Haar lag in Flechten um ihren Kopf. Ihr runder Arm wölbte sich über die Reling. Sie reckten ihre Gesichter der Sonne entgegen.
Weiter unten auf derselben Seite war ein zweites Foto von dem Mann: mittlerweile abgemagert und grau, stand er an einem Zaun in einem Garten voller Kohl, der nur russischer Kohl sein konnte. Neben ihm, eine Gruppe bildend, standen eine dralle Bäuerin und zwei junge, kräftige Burschen mit Mützen und Stiefeln aus Karakulpelz.
»Das ist meine Tante«, sagte Arkady. »Und das sind meine Kosakenvettern.«
Die Karakulmützen weckten in mir die Erinnerung an einen stickigen Sommernachmittag in Kiew und an eine Schwadron von Kosaken, die auf einer mit Kopfstein gepflasterten Straße exerzierten: glänzende schwarze Pferde, scharlachrote Umhänge, hohe, schrägsitzende Mützen und die verdrießlichen, gereizten Gesichter der Menge.
Das war im August 1968 gewesen, einen Monat vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei. Den ganzen Sommer hindurch hatte es Gerüchte über Unruhen in der Ukraine gegeben.
Arkady füllte die Gläser nach, und wir sprachen weiter über die Kosaken: über »Kasaken« und »Kosaken«; über den Kosaken als Söldner und den Kosaken als Rebellen; über Jermak den Kosaken und die Eroberung Sibiriens; über Pugatschew und Stenka Rasin; über Machno und Budjonnys Reiterarmee. Ich kam zufällig auf von Pannwitzens Kosakenbrigade zu sprechen, die gegen die sowjetische Armee für die Deutschen gekämpft hatte.
»Komisch, daß Sie von Pannwitz erwähnen«, sagte er.
1945 befanden sich seine Eltern in der britischen Besatzungszone in Österreich. Zur damaligen Zeit schickten die Alliierten sowjetische Flüchtlinge, ob sie nun Verräter waren oder nicht, nach Hause zurück und lieferten sie Stalin aus. Sein Vater wurde von einem Major des britischen Nachrichtendienstes verhört, der ihn in fehlerlosem Ukrainisch beschuldigte, für von Pannwitz gekämpft zu haben. Nach einwöchiger, ununterbrochener Befragung konnte er den Mann davon überzeugen, daß die Anklage ungerechtfertigt war.
Dann wurden sie nach Deutschland gebracht, wo man sie in einem ehemaligen Offiziersclub unter dem Adlernest in Berchtesgaden einquartierte. Sie stellten Anträge auf Auswanderung in die USA und nach Kanada. Argentinien, so wurde ihnen mitgeteilt, sei ein besserer Tip für Leute mit fragwürdigem Status. Schließlich kamen nach einem Jahr angstvollen Wartens Meldungen über Arbeitsmöglichkeiten in Australien und Fahrkarten für diejenigen, die unterschrieben.
Sie nahmen die Gelegenheit freudig wahr. Sie wollten nichts anderes als einem mörderischen Europa entkommen – der Kälte, dem Schlamm, dem Hunger und den verschollenen Familien – und ein sonniges Land betreten, in dem jedermann zu essen hatte.
Sie reisten auf einem umgewandelten Lazarettschiff von Triest ab. Alle Ehepaare wurden während der Reise getrennt und konnten sich nur tagsüber auf Deck treffen. Nach der Landung in Adelaide wurden sie in einem Lager von Nissenhütten interniert, wo Männer in Khaki auf englisch Befehle kläfften. Manchmal glaubten sie, wieder in Europa zu sein.
Mir war schon vorher aufgefallen, daß Arkadys Besessenheit von der australischen Eisenbahn etwas Grimmiges hatte. Jetzt erklärte er es.
Der Job, der Iwan Wolschok zugeteilt wurde, war eine Arbeit als Wartungsmonteur bei der Transcontinental Line, mitten in der Nullarbor-Ebene. Dort, zwischen den Bahnhöfen von Xanthus und Kitchener, ohne Frau und ohne Kinder, von der Sonne und einer Kost aus Pökelfleisch und dünnem Tee in den Wahnsinn getrieben, mühte er sich damit ab, Schwellen auszuwechseln.
Eines Tages brachte man ihn auf einer Bahre nach Adelaide zurück. Die Arzte sagten: »Hitzschlag«, und die Eisenbahn zahlte keine angemessene Entschädigung. Ein anderer Arzt sagte: »Sie haben ein klappriges Herz.« Er arbeitete nie wieder.
Glücklicherweise war Arkadys Mutter eine patente und entschlossene Frau; sie begann mit einem Straßenstand und baute ein florierendes Obst- und Gemüsegeschäft auf. Sie kaufte ein Haus in einem östlichen Vorort. Sie las sich selbst russische Romane vor, Arkascha und seinen Brüdern russische
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