Traumpfade
Gäste gingen im Garten umher, ihre Pappteller mit dem Essen in der Hand, oder saßen lachend in Gruppen auf der Erde oder, in ernsthafte Gespräche vertieft, auf Campingstühlen. Es waren Krankenschwestern, Lehrerinnen, Linguistinnen, Architektinnen. Ich nahm an, alle arbeiteten auf die eine oder andere Weise mit den Aborigines, oder für sie. Sie waren jung und hatten wunderschöne Beine.
Es war nur ein Aborigine zugegen: ein schlaksiger Mann mit weißen Shorts und einem Bart, der sich wie ein Fächer bis unter seinen Nabel ausbreitete. Ein Halbblutmädchen hing an seinem Arm. Ihr Haar war mit einem lila Kopftuch verhüllt. Er überließ ihr das Reden.
Sie sagte mit klagender Stimme, daß der Stadtrat von Alice vorhabe, das Trinken in der Öffentlichkeit zu verbieten. »Und wo sollen unsere Leute trinken«, fragte sie, »wenn nicht in der Öffentlichkeit?«
Dann sah ich den Fitneßfan, der schnurgerade durch den Garten auf uns zukam. Er hatte sich umgezogen und trug nun ein Landrechte-T-Shirt und giftgrüne Boxershorts. Er sah, das mußte man zugeben, auf eine säuerliche Weise gut aus. Sein Name war Kidder. Der schrille, ansteigende Ton, mit dem er seine Sätze beendete, verlieh seinen Erklärungen, wie dogmatisch sie auch waren, etwas Zaghaftes und Zweifelndes. Er hätte einen ausgezeichneten Polizisten abgegeben.
»Wie ich schon im Pub sagte«, sagte er, »sind die Zeiten für diese Art von Forschungen vorüber.«
»Welche Art von Forschungen?«
»Die Aborigines haben es gründlich satt, wie Tiere im Zoo beschnüffelt zu werden. Sie haben dem ein Ende gemacht.«
»Wer hat dem ein Ende gemacht?«
»Sie selber«, sagte er. »Und ihre Gemeindeberater.«
»Zu denen Sie gehören?«
»Ja«, pflichtete er mir bescheiden bei.
»Heißt das, daß ich mit keinem Aborigine sprechen darf, ohne vorher Ihre Erlaubnis einzuholen?«
Er schob das Kinn vor, senkte die Lider und blickte zur Seite. »Wollen Sie initiiert werden?« fragte er.
Er fügte hinzu, daß ich mich, falls ich wolle, einer Beschneidung unterziehen müsse, falls ich noch nicht beschnitten sei, und danach einer Subinzision, was, wie ich zweifellos wisse, bedeute, daß meine Harnröhre wie eine Bananenschale zurückgepellt und mit einem Steinmesser geschält würde.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich verzichte.«
»In dem Fall«, sagte Kidder, »haben Sie kein Recht, Ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, die Sie nichts angehen.«
»Sind sie initiiert worden?«
»Ich … hm … ich …«
»Ich fragte, ob Sie initiiert worden sind?«
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schlug einen etwas höflicheren Ton an.
»Ich sollte Sie vielleicht über gewisse politische Entscheidungen informieren«, sagte er.
»Tun Sie das.«
Kidder kam wieder auf sein Thema zurück und sagte, das heilige Wissen sei der kulturelle Besitz der Aborigines. Alles Wissen, das den Weißen in die Hände gefallen sei, hätten diese entweder mit List oder mit Gewalt erworben. Es würde jetzt entprogrammiert werden.
»Wissen ist Wissen«, sagte ich. »Es ist nicht so einfach, es loszuwerden.«
Er war anderer Meinung.
Heiliges Wissen zu entprogrammieren, sagte er, bedeute, die Archive nach unveröffentlichtem Material über die Aborigines zu durchsuchen und danach die betreffenden Seiten den rechtmäßigen »Besitzern« zurückzuerstatten. Es bedeute, daß das Copyright des Autors eines Buches auf das von ihm beschriebene Volk übertragen werde; daß die Fotografien an die Fotografierten (oder ihre Nachkommen), die Tonbandaufzeichnungen an die Ausgefragten zurückgegeben würden, und so weiter.
Ich ließ ihn ausreden und holte ungläubig Luft.
»Und wer«, fragte ich, »entscheidet darüber, wer diese ›Besitzer‹ sind?«
»Wir haben Methoden, solche Informationen zu recherchieren.«
»Ihre eigenen Methoden oder ihre Methoden?«
Er antwortete nicht. Statt dessen wechselte er das Thema und fragte, ob ich wisse, was ein Tschuringa sei.
»Ja«, sagte ich.
»Was ist ein Tschuringa?«
»Ein heiliges Brett«, sagte ich. »Das ›Allerheiligste‹ eines Aborigine. Oder, wenn Sie so wollen, seine ›Seele‹.«
Ein Tschuringa ist gewöhnlich eine ovale, aus Stein oder Mulgaholz geschnittene Platte, deren Oberfläche mit Zeichen bedeckt ist, die die Wanderungen des Traumzeit-Ahnen ihres Besitzers symbolisieren. Nach dem Gesetz der Aborigines durfte keine nichtinitiierte Person je einen Blick darauf werfen.
»Haben Sie einen Tschuringa gesehen?« fragte
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