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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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niemand in Australien ohne Land, denn jeder erbte als seinen oder ihren privaten Besitz ein Stück vom Lied des Ahnen und ein Stück von dem Land, über das das Lied führte. Die Strophen eines Menschen waren seine Besitzurkunde für sein Territorium. Er konnte sie an andere ausleihen. Er konnte sich seinerseits Strophen borgen. Nur verkaufen oder loswerden konnte er sie nicht.
    Wenn zum Beispiel die Ältesten vom Klan der Rautenschlange beschlossen, daß es Zeit war, ihren Liederzyklus von Anfang bis Ende zu singen, wurden den Weg hinauf und hinunter Botschaften ausgesandt, um die Besitzer des Lieds zu einer Versammlung am Zeremonienplatz herbeizurufen. Dann sang jeder Besitzer, einer nach dem andern, sein Stück von den Fußspuren des Ahnen. Immer in der richtigen Reihenfolge!
    »Eine Strophe außerhalb der Reihe zu singen«, sagte Flynn düster, »war ein Verbrechen. Gewöhnlich bedeutete es die Todesstrafe.«
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Es war wohl die musikalische Entsprechung eines Erdbebens.«
    »Schlimmer«, sagte er und blickte finster. »Es bedeutete, die Schöpfung ungeschehen zu machen.«
    Wo immer sich ein Zeremonienplatz befand, fuhr er fort, bestand die Möglichkeit, daß sich an ihm die anderen Träume überschnitten. So konnten bei einem dieser Corroborees vier verschiedene totemistische Klans von beliebig vielen verschiedenen Stämmen versammelt sein, die allesamt untereinander Lieder, Tänze, Söhne und Töchter austauschten und sich gegenseitig »Wegerechte« garantierten.
    »Wenn Sie ein bißchen länger hiergewesen sind«, sagte er, mir zugewandt, »werden Sie den Ausdruck ›rituelles Wissen erwerben‹ kennenlernen.«
    Dies bedeutete, daß der Mensch seine Lied-Karte vergrößerte. Er erweiterte seine Möglichkeiten und erforschte die Welt mit Hilfe des Lieds.
    »Stellen Sie sich zwei Schwarze vor«, sagte er, »die sich zum erstenmal in einem Pub in Alice begegnen. Der eine wird es mit einem Traum versuchen. Der andere mit einem anderen. Dann wird mit Sicherheit etwas klicken …«
    »Und das«, fuhr Arkady dazwischen, »ist der Anfang einer schönen Trinker-Freundschaft.«
    Alle lachten darüber, bis auf Flynn, der weitersprach.
    Als nächstes müsse man verstehen, sagte er, daß jeder Liederzyklus alle Sprachbarrieren überspringe, ohne Rücksicht auf Stämme oder Grenzen. Ein Traumpfad konnte im Nordwesten in der Nähe von Broome beginnen, sich durch zwanzig oder mehr Sprachen schlängeln und schließlich bei Adelaide ans Meer gelangen.
    »Und doch ist es immer dasselbe Lied«, sagte ich.
    »Die Menschen unseres Volkes glauben«, sagte Flynn, »daß sie ein Lied an seinem ›Geschmack‹ oder ›Geruch‹ erkennen können … Womit sie natürlich die ›Melodie‹ meinen. Die Melodie bleibt immer dieselbe, von den ersten Takten bis zum Finale.«
    »Die Wörter können sich ändern«, unterbrach Arkady wieder, »aber die Melodie lebt fort.«
    »Heißt das«, fragte ich, »daß ein junger Mann auf ›Buschwanderung‹ seinen Weg quer durch Australien singen könnte, vorausgesetzt, er kann die richtige Melodie summen?«
    »Theoretisch ja«, bestätigte Flynn.
    Um 1900 hatte es den Fall eines Mannes aus Arnhemland gegeben, der auf der Suche nach einer Ehefrau quer über den Kontinent gewandert war. Er heiratete an der Südküste und wanderte mit seiner Frau und seinem neuerworbenen Schwager zurück nach Hause. Dann heiratete der Schwager ein Mädchen aus Arnhemland und wanderte mit ihr in den Süden zurück.
    »Arme Frauen«, sagte ich.
    »Praktische Anwendung des Inzesttabus«, sagte Arkady. »Wenn man frisches Blut will, muß man ein Stück laufen, um es zu bekommen.«
    »Aber in der Praxis«, fuhr Flynn fort, »rieten die Ältesten dem jungen Mann, nicht weiter als zwei oder drei ›Etappen‹ entlang der Linie zu wandern.«
    »Was verstehen Sie unter ›Etappe‹?« fragte ich.
    Eine Etappe, sagte er, sei die »Übergabestelle«, wo das Lied in den Besitz eines anderen übergehe, wo man sich nicht mehr um ihn kümmern mußte und ihn nicht mehr ausleihen konnte. Man sang seine Strophen zu Ende, und dort lag die Grenze.
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Wie eine internationale Grenze. Die Straßenschilder wechseln die Sprache, aber die Straße ist nach wie vor dieselbe.«
    »Mehr oder weniger«, sagte Flynn. »Aber das sagt nichts über die Schönheit des Ganzen aus. Hier gibt es keine Grenzen, nur Straßen und ›Etappen‹.«
    Da war zum Beispiel das Stammesgebiet der Aranda in

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