Traumpfade
Oktober 1976, zwei Monate vor der Regenzeit, ging Flynn fort, um Roe River zu übernehmen. Sein Amtsvorgänger weigerte sich, ihm zu begegnen, und ging auf Studienurlaub nach Europa. Der Regen kam – und es herrschte Ruhe.
Irgendwann in der Fastenzeit telegrafierte der katholische Bischof der Kimberleys nach Boongaree mit der Bitte um die Bestätigung oder Dementierung eines Gerüchts, demzufolge Flynn sich »zu den Eingeborenen geschlagen« hätte – worauf Pater Villaverde antwortete: »Er ist Eingeborener!«
Am ersten flugsicheren Tag nahm der Bischof den Benediktiner in seiner Cessna mit nach Roe River, wo sie den Schaden besichtigten – »zwei konservative Politiker am Schauplatz eines terroristischen Bombenanschlags«.
Die Kirche war verwahrlost. Gebäude waren als Brennholz verfeuert worden. Die Viehgehege standen leer, und überall lagen verkohlte Rinderknochen. Pater Villaverde sagte: »Unsere Arbeit in Australien ist am Ende.«
Dann überreizte Flynn sein Blatt. Er glaubte, die Landrechtebewegung mache schnellere Fortschritte, als es tatsächlich der Fall war. Er verließ sich auf die Zusagen gewisser Linker, die Missionen im ganzen Land würden den Schwarzen übergeben werden. Er lehnte jeden Kompromiß ab. Pater Villaverde übertrumpfte ihn.
Die Angelegenheit hatte die Kirche an ihrem wundesten Punkt getroffen: bei den Finanzen. Es war nicht allgemein bekannt, daß sowohl Boongaree als auch Roe River mit ursprünglich in Spanien aufgebrachtem Kapital finanziert worden waren. Eine Bank in Madrid hielt die Besitzurkunde als Sicherheit verwahrt. Um einem Versuch der Beschlagnahmung zuvorzukommen, wurden beide Missionen heimlich an einen amerikanischen Geschäftsmann verkauft und in die Aktiva einer multinationalen Gesellschaft eingebracht.
Die Presse startete eine Kampagne zugunsten ihrer Rückgabe. Die Amerikaner drohten mit der Schließung einer unprofitablen Schmelzhütte im Norden von Perth und dem Verlust von fünfhundert Arbeitsplätzen. Die Gewerkschaften intervenierten. Die Kampagne versickerte. Die Aborigines wurden zerstreut, und Dan Flynn – so nannte er sich jetzt – zog zu einer Frau nach Broome.
Ihr Name war Goldie. Zu ihren Vorfahren zählten Malaien, Koipanger, Japaner, Schotten und Aborigines. Ihr Vater war Perlenfischer gewesen, und sie war Zahnärztin. Bevor Flynn in ihre Wohnung zog, schrieb er, in fehlerlosem Latein, einen Brief, in dem er den Heiligen Vater bat, ihn von seinem Gelübde zu befreien.
Das Paar zog nach Alice Springs, und beide betätigten sich in der Aborigine-Politik.
12
D er Ex-Benediktiner hielt für ein halbes Dutzend Leute in dem dunkleren Teil des Gartens hof. Das Mondlicht beschien seine Jochbögen, sein Gesicht und sein Bart wurden von der Dunkelheit verschluckt. Seine Freundin saß zu seinen Füßen. Von Zeit zu Zeit reckte sie ihren schönen langen Hals über seinen Oberschenkel, und er streckte einen Finger aus und kitzelte sie.
Er war, das ließ sich nicht leugnen, schwierig. Als Arkady sich neben den Stuhl hockte und erklärte, was ich wollte, hörte ich Flynn murmeln: »Herrgott, nicht schon wieder einer!«
Ich mußte volle fünf Minuten warten, bevor er sich herabließ, seinen Kopf in meine Richtung zu drehen. Dann fragte er in klanglosem, ironischem Ton: »Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
»Das können Sie«, sagte ich nervös. »Ich interessiere mich für die Songlines.«
»Tatsächlich?«
Seine Gegenwart war derart einschüchternd, daß sich alles, was man sagte, geradezu lächerlich anhörte. Ich versuchte, ihn für verschiedene Theorien über die Evolution von Sprache zu interessieren.
»Es gibt Linguisten«, sagte ich, »die glauben, daß die erste Sprache Gesang war.«
Er blickte weg und strich über seinen Bart.
Dann versuchte ich einen anderen Weg und beschrieb, wie Zigeuner über riesige Entfernungen miteinander kommunizieren, indem sie geheime Strophen durch das Telefon singen.
»Tun sie das?«
Bevor er initiiert wird, fuhr ich fort, muß ein junger Zigeuner die Lieder seines Klans, die Namen seiner Verwandten und mehrere hundert internationale Telefonnummern auswendig lernen.
»Zigeuner«, sagte ich, »sind wahrscheinlich die besten Telefonanzapfer der Welt.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Flynn, »was Zigeuner mit unserem Volk zu tun haben.«
»Die Zigeuner betrachten sich ebenfalls als Jäger«, sagte ich. »Die ganze Welt ist ihr Jagdgrund. Seßhafte sind ›unbewegliches Wild‹. Das Wort für ›Seßhafte‹
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