Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
Vom Netzwerk:
ist bei den Zigeunern identisch mit dem Wort für ›Fleisch‹.«
    Flynn drehte sich um und sah mich an.
    »Wissen Sie, wie unser Volk den weißen Mann nennt?« fragte er.
    »Fleisch«, vermutete ich.
    »Und wissen Sie, wie sie einen Scheck von der Fürsorge nennen?«
    »Ebenfalls Fleisch.«
    »Holen Sie sich einen Stuhl«, sagte er. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
    Ich brachte den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, und stellte ihn neben ihn.
    »Tut mir leid, daß ich ein bißchen scharf war«, sagte er. »Sie sollten die Nullen sehen, mit denen ich zu tun habe. Was möchten Sie trinken?«
    »Bier«, sagte ich.
    »Noch vier Bier«, rief Flynn einem Jungen in einem orangeroten Hemd zu.
    Der Junge zog eifrig los, um sie zu holen.
    Flynn beugte sich vor und flüsterte Goldie etwas ins Ohr. Sie lächelte, und er sprach.
    Die Weißen, begann er, gingen von der allgemein verbreiteten, irrtümlichen Annahme aus, daß die Aborigi nes, weil sie Wanderer waren, keine Landbesitzordnung hätten. Das sei Unsinn. Aborigines, das stimmte, konnten sich ein Territorium nicht als ein von Grenzen umschlos senes Stück Land vorstellen, sondern sahen es eher als ein verschachteltes Netz von »Linien« oder »Durch-Gängen«.
    »Alle unsere Wörter für ›Land‹ sind identisch mit den Wörtern für ›Linie‹«, sagte er.
    Dafür gab es eine einfache Erklärung. Der größte Teil des australischen Buschlandes bestand aus dürrem Gestrüpp oder Wüste, wo die Regenfälle immer unregelmäßig kamen und wo auf ein fettes Jahr sieben magere Jahre folgen konnten. In einer solchen Landschaft herumzuziehen bedeutete Überleben, am selben Ort zu bleiben war Selbstmord. Die Definition vom »eigenen Land« eines Menschen war »der Ort, an dem ich nicht fragen muß«. Doch um sich in diesem Land »zu Hause« zu fühlen, mußte man imstande sein, es zu verlassen. Jeder hoffte, wenigstens vier »Aus-Wege« zu haben, auf denen er in Krisenzeiten reisen konnte. Jeder Stamm – ob es ihm gefiel oder nicht – mußte Beziehungen mit seinen Nachbarn pflegen.
    »Wenn A also Obst hatte«, sagte Flynn, »und B hatte Enten und C eine Ockergrube, dann gab es offizielle Regelungen für den Austausch dieser Waren und offizielle Routen, entlang denen gehandelt wurde.«
    Was die Weißen »Buschwanderung« zu nennen pflegten, war in der Praxis eine Art Buschtelegraf plus Börse, bei der Botschaften zwischen Völkern ausgetauscht wurden, die einander nie sahen, die von der Existenz des anderen keine Ahnung haben mochten.
    »Dieser Handel«, sagte er, »war kein Handel, wie ihr Europäer ihn versteht. Kein Geschäft, bei dem mit Profit gekauft und verkauft wurde! Der Handel unseres Volkes war immer symmetrisch.«
    Aborigines waren allgemein der Ansicht, daß alle »Güter« potentiell schädlich waren und sich gegen ihre Besitzer richteten, sofern diese nicht ständig in Bewegung waren. Diese »Güter« mußten nicht unbedingt eßbar oder nütz lich sein. Die Menschen taten nichts lieber, als unnütze Dinge tauschen – oder Dinge, die sie sich selbst beschaffen konnten: Federn, heilige Gegenstände, Schnüre aus Menschenhaar.
    »Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Manche Völker handelten mit ihren Nabelschnüren.«
    »Ich sehe, daß Sie die einschlägigen Bücher gelesen haben.«
    »Tauschgüter«, fuhr er fort, »sollten eher als Spielsteine eines gigantischen Spiels angesehen werden, bei dem der ganze Kontinent das Spielbrett war und alle seine Bewohner Spieler. ›Güter‹ waren Absichtserklärungen: um wie der zu handeln, sich wieder zu treffen, die Grenzen festzusetzen, untereinander zu heiraten, zu singen und zu tanzen, um Schätze zu teilen und Gedanken auszutauschen.«
    Eine Muschel konnte von einer Hand zur andern gehen, von der Timorsee bis zur Großen Bucht, über »Straßen«, die seit Anbeginn der Zeit überliefert worden waren. Diese »Straßen« folgten der Linie unversiegbarer Wasserlöcher. Die Wasserlöcher selbst waren Zeremonienzentren, wo sich Männer verschiedener Stämme versammelten.
    »Zu Corroborees, wie Sie es nennen?«
    » Sie nennen es Corroborees«, sagte er. »Wir nicht.«
    »Stimmt«, nickte ich. »Wollen Sie sagen, daß eine Handelsstraße immer an einer Songline entlangführt?«
    »Die Handelsstraße ist die Songline«, sagte Flynn. »Denn Lieder und nicht Dinge sind Hauptgegenstand des Tauschens. Der Handel mit ›Dingen‹ ist eine Begleiterscheinung des Handels mit Liedern.«
    Bevor die Weißen kamen, fuhr er fort, war

Weitere Kostenlose Bücher