Traumpfade
Zentralaustralien. Wenn man davon ausging, daß es sechshundert Träume gab, die sich in das Gebiet hinein- und aus ihm herauswoben, bedeutete das zwölfhundert an seinem Perimeter verstreute »Übergabestellen«. Jeder »Halt« war von einem Ahnen in der Traumzeit in seine Position gesungen worden: sein Platz auf der Lied-Karte war daher unveränderlich. Aber da jeder einzelne das Werk eines anderen Ahnen war, gab es keine Möglichkeit, sie seitlich miteinander zu verbinden und so eine moderne politische Grenze zu schaffen.
In einer Aborigine-Familie, sagte er, konnte es vorkommen, daß es fünf leibliche Brüder gab, von denen jeder einem anderen totemistischen Klan angehörte, jeder mit unterschiedlichen Bündnissen innerhalb und außerhalb des Stammes. Gewiß, bei den Aborigines gab es Kämpfe und Vendetten und Blutfehden – aber immer nur, um ein Ungleichgewicht oder ein Sakrileg abzuschaffen. Der Gedanke, das Land ihrer Nachbarn zu überfallen, wäre ihnen nie gekommen.
»Letzten Endes«, sagte ich zögernd, »läuft es auf etwas hinaus, das dem Vogelgesang ziemlich ähnlich ist. Auch Vögel singen ihre territorialen Grenzen.«
Arkady, der mit der Stirn auf den Knien zugehört hatte, sah hoch und warf mir einen Blick zu: Ich habe mich schon gefragt, wann du damit ankommen würdest.
Flynn führte dann das Gespräch weiter, indem er ausführte, was so viele Anthropologen in Verzweiflung gestürzt hatte: die Frage der doppelten Vaterschaft.
Frühe Australienreisende berichteten, daß die Aborigines keinen Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Empfängnis herstellten: ein Beweis, falls es an Beweisen mangelte, für ihre hoffnungslos »primitive« Mentalität.
Das war natürlich Unsinn. Jeder wußte sehr genau, wer sein Vater war. Doch es gab zusätzlich eine Art paralleler Vaterschaft, welche die Seele mit einer bestimmten Stelle in der Landschaft verband.
Jeder Ahne hatte, so glaubte man, während er seinen Weg durch das Land sang, eine Spur von »Lebenszellen« oder »Geisterkindern« an der Linie seiner Fußspuren hinterlassen.
»Eine Art musikalisches Sperma«, sagte Arkady und brachte wieder alle zum Lachen – diesmal auch Flynn.
Das Lied lag somit in einer ununterbrochenen Kette von Strophen auf der Erdoberfläche: eine Strophe für jedes Paar Schritte des Ahnen, jede Strophe aus den Namen gebildet, die er beim Wandern »auswarf«.
»Ein Name nach rechts und ein Name nach links?«
»Ja«, sagte Flynn.
Man mußte sich eine bereits schwangere Frau bei der täglichen Nahrungssuche vorstellen. Plötzlich tritt sie auf eine Strophe, und das »Geister-Kind« springt auf – durch ihren Fußnagel bis hinauf in ihre Vagina oder durch eine offene Schwiele an ihrem Fuß –, arbeitet sich bis in ihren Bauch vor und schwängert den Fötus mit Gesang.
»Die erste Regung des Babys«, sagte er, »entspricht dem Augenblick der ›geistigen Empfängnis‹.«
Dann kennzeichnet die zukünftige Mutter die Stelle und eilt davon, um die Ältesten zu holen. Diese interpretieren dann die Position und bestimmen, welcher Ahne diesen Weg gegangen ist und welche Strophen in den Besitz des Kindes übergehen werden. Sie reservieren ihm eine »Empfängnisstätte«, die der nächsten Landmarke an der Songline entspricht. Sie kennzeichnen seinen Tschuringa in der Tschuringa-Lagerstätte.
Flynns Stimme wurde vom Lärm eines tief über unseren Köpfen einfliegenden Jets übertönt.
»Amerikaner«, sagte Marian bitter. »Sie fliegen nur nachts ein.«
Die Amerikaner haben eine Weltraumbeobachtungsstation in Pine Gap in den MacDonnell-Bergen. Wenn man in Alice landet, sieht man eine riesige weiße Kugel und eine Ansammlung anderer Installationen. Niemand in Australien, nicht einmal der Premierminister, scheint zu wissen, was dort wirklich vorgeht. Niemand weiß, wozu Pine Gap dient.
»Mein Gott, es ist unheimlich«, sagte Marian schaudernd. »Ich wünschte, sie würden gehen.«
Der Pilot betätigte die Luftbremsen, und das Transportflugzeug verlangsamte seine Geschwindigkeit auf der Landebahn.
»Sie werden gehen«, sagte Flynn. »Eines Tages werden sie gehen müssen.«
Unser Gastgeber und seine Frau hatten die Reste weggeräumt und waren zu Bett gegangen. Ich sah Kidder durch den Garten auf uns zukommen.
»Ich werde jetzt besser gehen«, wandte er sich an die Gruppe. »Ich muß noch meinen Flugplan machen.«
Er flog am Morgen nach Ayer’s Rock, in irgendeiner Angelegenheit der Landclaimbewegung von Ayer’s
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