Traumpfade
hatte, damit er unter der Motorhaube im Schatten liegen konnte.
Die Fahrerkabine war in schwarze Plastikfolie gehüllt. Aus einem der Fenster ragte ein Bündel Speere heraus.
Wir setzten uns mit gekreuzten Beinen in den Sand. Ich fragte ihn, ob er mir ein paar Träume aus der Umgebung zeigen könne.
»Ho! Ho!« Er brach in gackerndes Lachen aus. »Viele Träume! Viele! «
»Also, wer – « fragte ich und deutete auf den Mount Liebler, »wer ist das?«
»Ho! Ho!« sagte er. »Das ist ein Großer. Ein Wanderer. Ein Perenty.«
Der Perenty, ein Waran, ist die größte Echse Australiens. Er wird über zwei Meter lang und kann eine solche Geschwindigkeit entwickeln, daß er ein Pferd überholen kann.
Joshua schob wie eine Eidechse seine Zunge vor und zurück, krallte seine Finger zu Klauen und grub sie wie eine Krabbe in den Sand, um den Gang des Perenty nachzuahmen.
Ich sah wieder zu den Klippen des Mount Liebler hinüber und stellte fest, daß ich den flachen, dreieckigen Kopf der Echse in das Gestein »hineinlesen« konnte, ihre Schulter, ihre Vorder- und Hinterfüße und den Schwanz, der nach Norden hin schmaler wurde.
»Ja«, sagte ich. »Ich sehe ihn. Und von wo kommt dieser Perenty-Mann?«
»Von weit her«, sagte Joshua. »Von weit, weit her. Von irgendwo oben in den Kimberley-Bergen.«
»Und wohin geht er?«
Er streckte seine Hand nach Süden aus. »Zum Volk in dem Land dort.«
Nachdem ich festgestellt hatte, daß die Perenty-Songline einer Nord-Süd-Achse folgte, drehte ich mich um und zeigte auf den Mount Cullen.
»Okay«, sagte ich. »Und wer ist das?«
»Frauen«, flüsterte Joshua. »Zwei Frauen.«
Er erzählte die Geschichte von den zwei Frauen, die den Perenty auf und ab durch das Land gejagt und ihn schließlich hier in die Enge getrieben und mit Grabstöcken auf seinen Kopf eingeschlagen hatten. Perenty hatte sich jedoch in die Erde verkrochen und war entkommen. Ein Loch auf dem Gipfel des Mount Liebler, das wie ein Meteoritenkrater aussah, war alles, was von der Kopfwunde übriggeblieben war.
Südlich von Cullen war das Land nach den Unwettern grün. Einzelne Felsen ragten wie Inseln aus der Ebene empor.
»Sag mir, Joshua«, fragte ich, »wer sind die Felsen dort drüben?«
Joshua zählte auf: Feuer, Spinne, Wind, Gras, Stachelschwein, Schlange, Alter Mann, Zwei Männer und ein nicht zu identifizierendes Tier, »wie ein Hund, aber ein weißer«. Sein eigener Traum, das Stachelschwein (oder der Ameisenigel), kam aus dem Arnhemland herunter, führte mitten durch Cullen und weiter nach Kalgoorlie.
Ich blickte zurück auf die Siedlung, auf die Blechdächer und die wirbelnden Flügel des Windrads.
»Das Stachelschwein kommt also hier vorbei?« sagte ich.
»Genau, Boß«, lächelte Joshua. »Hast du gut gesehen.«
Er zeichnete die Linie des Stachelschweinwegs über die Rollbahn, vorbei an der Schule und an der Zapfsäule und weiter am Fuß des Perenty-Felsens entlang, bevor sie in die Ebene hinuntersauste.
»Kannst du sie für mich singen?« fragte ich. »Kannst du singen, wie er hierherkommt?«
Er blickte sich um, um sich zu vergewissern, daß niemand in Hörweite war, und dann sang er mit Bruststimme eine Anzahl von Stachelschweinstrophen, und er blieb im Takt, indem er mit dem Fingernagel gegen ein Stück Pappe schnippte.
»Danke«, sagte ich.
»Boß.«
»Erzähl mir noch eine Geschichte«, sagte ich.
»Du magst diese Geschichten?«
»Ich mag sie.«
»Okay, Boß!« Er schwenkte seinen Kopf hin und her. »Geschichte von der Großen Fliege.«
»Libelle?« fragte ich.
»Größer.«
»Vogel?«
»Größer.«
Wenn Aborigines eine Songline in den Sand malen, zeichnen sie eine Anzahl von Linien mit Kreisen dazwischen. Die Linie stellt eine Etappe auf der Reise des Ahnen dar (gewöhnlich eine Tageswanderung). Jeder Kreis ist ein »Halt«, ein »Wasserloch« oder einer der Lagerplätze des Ahnen. Aber die Geschichte von der Großen Fliege ging über meinen Horizont.
Sie begann mit ein paar geraden Strecken, dann bog sie in einen rechteckigen Irrgarten ab und endete schließlich in einer Anzahl von Schlangenlinien. Während er jeden einzelnen Abschnitt zeichnete, rief Joshua immer wieder, auf englisch, einen Refrain: »Ho! Ho! Die da drüben haben das Geld.«
Ich muß an diesem Morgen ziemlich schwer von Begriff gewesen sein: es dauerte Ewigkeiten, bis mir klarwurde, daß dies ein Qantas-Traum war. Joshua war einmal nach London geflogen. Der »Irrgarten« war der Londoner
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