Traumpfade
Flughafen: die Ankunftshalle, die Gesundheits-, Einwanderungs- und Zollbehörden und dann die Fahrt mit der Untergrundbahn in die Stadt. Die »Schlangenlinien« waren die Drehungen und Wendungen des Taxis von der U-Bahn-Station bis zum Hotel.
In London hatte Joshua die üblichen Sehenswürdigkeiten besichtigt – den Tower, die Wachablösung und so weiter –, aber sein eigentliches Ziel war Amsterdam gewesen.
Das Ideogramm für Amsterdam war noch verwirrender. Da war ein Kreis. Da waren vier kleinere Kreise darum herum, und da waren Drähte, die von jedem dieser Kreise zu einer rechteckigen Schachtel führten.
Schließlich ging mir auf, daß dies eine Art Podiumsdiskussion war, bei der er, Joshua, einer von vier Teilnehmern gewesen war. Die anderen waren, im Uhrzeigersinn, »ein Weißer, ein Vater«, »ein Dünner, ein Roter«, »ein Schwarzer, ein Dicker« gewesen.
Ich fragte, ob die »Drähte« Mikrofonkabel seien. Joshua schüttelte lebhaft den Kopf. Er wußte alles über Mikrofone. Schließlich hatten sie Mikrofone gehabt, auf dem Tisch.
»Nein! Nein!« rief er und legte seine Finger an die Schläfen.
»Waren es Elektroden oder so was Ähnliches?«
»He!« gackerte er. »Du hast es.«
Das Bild, das ich mir zusammensetzte – ob richtig oder falsch, kann ich noch längst nicht sagen –, ergab ein »wissenschaftliches« Experiment: ein Aborigine hatte seinen Traum gesungen, ein katholischer Mönch hatte gregorianische Gesänge gesungen, ein tibetanischer Lama hatte seine Mantras gesungen, und ein Afrikaner hatte Gott weiß was gesungen. Alle vier hatten sich das Herz aus dem Leib gesungen, damit die Wirkung verschiedener Gesangsstile auf die rhythmische Struktur des Gehirns getestet werden konnte.
Die Episode kam Joshua im nachhinein so unglaublich komisch vor, daß er sich vor Lachen den Bauch halten mußte.
Das mußte ich auch.
Wir hatten beide einen hysterischen Lachkrampf und lagen nach Atem ringend im Sand.
Vom Lachen geschwächt, stand ich auf. Ich bedankte mich bei ihm und verabschiedete mich.
Er grinste.
»Kannst du nicht einem Mann einen Drink spendieren?« brummte er mit seinem John-Wayne-Akzent.
»Nicht in Cullen«, sagte ich.
30
A rkady kam am späten Nachmittag zurück, müde und besorgt. Er duschte, machte sich ein paar Notizen und legte sich auf seine Bettstelle. Der Besuch bei Titus war nicht sehr gut verlaufen. Nein, das stimmt nicht. Er und Titus waren sehr gut miteinander ausgekommen, aber was Titus ihm berichten mußte, war eine deprimierende Ge schichte.
Titus’ Vater war ein Pintupi, seine Mutter eine Loritja, und er war siebenundvierzig oder achtundvierzig Jahre alt. Er war nicht weit von seiner Hütte geboren worden, aber um 1942 zogen seine Eltern, von der Marmelade, dem Tee und dem Mehl des weißen Mannes angezogen, aus der Wüste fort und suchten Zuflucht in der Lutherischen Mission am Horn River. Die Pastoren erkannten in Titus ein Kind von herausragender Intelligenz und nahmen sich seiner Erziehung an.
Noch in den fünfziger Jahren leiteten die Lutheraner ihre Schulen nach den Richtlinien einer preußischen Akademie – und Titus war ein Modellschüler. Es gibt Bilder, die ihn an seinem Pult zeigen, das Haar ordentlich gescheitelt, in grauer Flanellhose und blitzblank geputzten Schuhen. Er lernte fließend Englisch und Deutsch sprechen. Er lernte Infinitesimalrechnen. Er beherrschte alle möglichen handwerklichen Fähigkeiten. Als junger Laienprediger versetzte er einmal seine Lehrer in Erstaunen, als er in deutsch eine Predigt über die theologischen Folgen des Wormser Edikts hielt.
Zweimal im Jahr, im Juni und dann im November, holte er seinen zweireihigen Anzug hervor, bestieg einen Zug nach Adelaide und verbrachte mehrere Wochen damit, Anschluß an das moderne Leben zu finden. In der Volksbücherei las er alte Nummern des Scientific American. In einem Jahr belegte er einen Kurs in petrochemischer Technologie.
Der »andere« Titus war der ultrakonservative Song-Mann, der halbnackt mit seinen Abhängigen und seinen Hunden lebte; der mit einem Speer und nie mit einem Gewehr auf die Jagd ging; der sechs oder sieben Aborigine-Sprachen beherrschte und in allen Ecken und Winkeln des Western Desert für seine Urteile über Stammesgesetze berühmt war.
Daß er beide Systeme in Gang zu halten vermochte, war ein Beweis – hätte es an Beweisen gemangelt – für seine unglaubliche Vitalität.
Titus hatte die Landrechte-Gesetzgebung als eine Chance für seine Leute
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