Traumpfade
brasilianischen Geheimpolizei entwendet, die nicht ohne einen gewissen Scharfsinn in ein paar Zeilen, die ich über die Wunden eines barocken Christus geschrieben hatte, eine verschlüsselte Beschreibung ihrer eigenen Untaten gegenüber politischen Gefangenen zu erkennen glaubte.
Einige Monate vor meiner Abreise nach Australien sagte die Besitzerin der papeterie, le vrai moleskine sei immer schwerer zu bekommen. Es gebe nur einen Lieferanten: ein kleines Familienunternehmen in Tours. Sie ließen sich viel Zeit, wenn es darum gehe, Briefe zu beantworten.
»Ich würde gern hundert bestellen«, sagte ich zu Madame. »Hundert werden mir ein Leben lang reichen.«
Sie versprach, noch am selben Nachmittag in Tours anzurufen.
Mittags machte ich eine ernüchternde Erfahrung. Der Oberkellner der Brasserie Lipp erkannte mich nicht wieder. »Non, Monsieur, il n’y a pas de place.« Um fünf ging ich zu meiner Verabredung mit Madame. Der Hersteller war gestorben. Seine Erben hatten das Unternehmen verkauft. Sie setzte ihre Brille ab und sagte, fast mit einer Trauermiene: »Le vrai moleskine n’est plus.«
Ich hatte eine Ahnung, daß die »Reisephase« meines Lebens bald vorbei sein könnte. Ich hatte das Gefühl, daß ich, bevor mich das Unbehagen an der Seßhaftigkeit beschlich, diese Notizbücher noch einmal öffnen sollte. Daß ich eine Zusammenfassung der Gedanken, Zitate und Begegnungen zu Papier bringen sollte, die mich amüsiert und verfolgt hatten und die, das hoffte ich, Licht werfen würden auf etwas, was für mich die Frage aller Fragen ist: die Natur der menschlichen Ruhelosigkeit.
Pascal vertrat in einer seiner etwas düsteren pensées die Ansicht, daß unser ganzes Elend von einer einzigen Ursache herrühre: unserer Unfähigkeit, ruhig in einem Zimmer zu bleiben.
Warum, fragte er, fühlte ein Mensch, der genug zum Leben besaß, sich dazu hingezogen, sich auf langen Seereisen zu zerstreuen? In einer anderen Stadt zu verweilen? Sich auf die Suche nach dem Pfefferkorn zu begeben? Oder in den Krieg zu ziehen und Köpfe einzuschlagen?
Später, nach weiterer Überlegung, als er die Ursache unseres Mißgeschicks entdeckt hatte, wollte er den Grund dafür verstehen, und er fand einen sehr guten Grund: nämlich das naturbedingte Unglück unseres schwachen, vergänglichen Lebens; so groß sei dieses Unglück, daß nichts uns trösten könne, wenn wir ihm unsere ganze Aufmerksamkeit schenkten.
Nur eins könne unsere Verzweiflung mindern, und das sei die »Zerstreuung« ( divertissement ): sie jedoch sei das größte unserer Mißgeschicke, denn die Zerstreuung hindere uns daran, über uns selbst nachzudenken, und stürze uns nach und nach ins Verderben.
Konnte es sein, fragte ich mich, daß unser Bedürfnis nach Zerstreuung, unsere Sucht nach dem Neuen ihrem Wesen nach ein instinktiver Wandertrieb waren, dem Zugtrieb der Vögel im Herbst vergleichbar?
Alle großen Lehrmeister haben verkündet, der Mensch sei ursprünglich ein »Wanderer in der ausgebrannten und unfruchtbaren Wildnis dieser Welt« gewesen – diese Worte sagt Dostojewskis Großinquisitor – und daß er, um seine Menschlichkeit wiederzufinden, sich aller Bindungen entledigen und sich auf den Weg machen müsse.
Meine beiden letzten Notizbücher waren gefüllt mit Aufzeichnungen, die ich in Südafrika gemacht hatte, wo ich aus nächster Nähe bestimmte Zeugnisse über die Entstehung unserer Art untersucht hatte. Was ich dort lernte – zusammen mit dem, was ich heute über die Songlines weiß –, scheint eine Theorie zu untermauern, die mich seit langer Zeit beschäftigt: daß die natürliche Auslese uns – von der Struktur unserer Hirnzellen bis zur Struktur unseres großen Zehs – zu einem Leben periodischer Fuß reisen durch brennend heißes Dornen- oder Wüstenland bestimmt habe.
Wenn das der Fall war, wenn die Wüste das »Zuhause« war, wenn unsere Instinkte in der Wüste geformt wurden, geformt, damit wir die strengen Bedingungen der Wüste überlebten – dann ist es leichter zu verstehen, warum grüne Wiesen uns langweilen, warum Besitz uns ermüdet und warum Pascals imaginärer Mensch seine angenehme Wohnstätte als Gefängnis empfand.
Aus den Notizbüchern
Unsere Natur ist in der Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod.
Pascal, Pensées
*
Eine Untersuchung der Großen Krankheit: der Abscheu vor dem Haus.
Baudelaire, Intime Tagebücher
*
Die überzeugendsten Analytiker der Ruhelosigkeit waren oft Männer, die aus dem
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