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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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Sozialarbeiter vor ein paar Wochen und sagt: ›Diesen grauen Star lassen wir besser einmal untersuchen.‹ Und sehen Sie mich jetzt an!«
    Ich blickte durch die Gläser in ein paar strahlende – strahlend war das richtige Wort – blaue Augen.
    »Sie haben mich ins Krankenhaus gebracht«, sagte sie. »Und sie haben den grauen Star herausgeschnitten! Ist das nicht wunderbar? Ich kann sehen!«
    »Ja«, sagte ich. »Es ist wunderbar!«
    »Ich bin zum erstenmal allein unterwegs«, vertraute sie mir an. »Ich habe keiner Seele etwas gesagt. Ich dachte mir beim Frühstück: Es ist ein wunderbarer Tag. Ich nehme den Bus bis zum Circular Quay und fahre mit dem Fährschiff nach Manly … genau wie in der guten alten Zeit. Ich hatte Fisch zum Mittagessen. Oh, es war wunderbar!«
    Sie machte einen Buckel, sah mich verschmitzt an und kicherte.
    »Wie alt würden Sie mich schätzen?« fragte sie.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich muß Sie genauer ansehen. Ich würde sagen, Sie sind achtzig.«
    »Nein, nein, nein«, lachte sie. »Ich bin dreiundneunzig … und ich kann sehen !«
    *
    Darwin erwähnt das Beispiel von Audubons Gans, die, ihrer Schwungfedern beraubt, begann, die Reise zu Fuß zu machen. Dann beschreibt er das Leiden eines Vogels, der in der Zeit der Migration eingesperrt war und mit seinen Flügeln gegen die Stäbe des Käfigs schlug und seine Brust an ihnen blutig rieb.
    *
    Robert Burton – ein seßhafter Büchernarr an der Universität Oxford – brachte eine Menge Zeit und Gelehrsamkeit auf, um zu beweisen, daß Reisen kein Fluch war, sondern ein Heilmittel gegen Melancholie, das heißt gegen die Depressionen, die Seßhaftigkeit mit sich bringt:
     
    Die Himmel selbst drehen sich ständig, die Sonne geht auf und unter, der Mond nimmt zu, Sterne und Planeten sind in ständiger Bewegung, die Luft wird noch immer von den Winden geschüttelt, das Wasser steigt und fällt, zweifellos zu seiner Erhaltung, um uns zu lehren, daß wir immer in Bewegung sein sollten.
    Oder:
     
    Es gibt gegen diese Krankheit [Melancholie] nichts Besseres als die Luftveränderung, als auf und ab zu wandern, wie die Zalmohenser-Tataren, die in Horden leben und die Gelegenheiten nutzen, die Zeit, Ort und Jahreszeiten bieten.
    Die Anatomie der Melancholie
    *
    Meine Gesundheit war gefährdet. Angst überkam mich. Ich schlief manchmal ganze Tage lang, und wenn ich aufgestanden war, träumte ich die traurigsten Träume weiter. Ich war reif für den Tod, und auf einer Straße voll von Gefahren führte mich meine Schwäche bis an die Grenze der Welt und des Landes der Kimmerier, der Heimat des Schattens und der Wirbelwinde.
    Ich mußte auf Wanderschaft gehen, die Zauberbilder zerstreuen, die sich in meinem Gehirn angesammelt hatten.
    Rimbaud, Eine Zeit in der Hölle
    *
    Er war ein großer Wanderer. Oh! Ein erstaunlicher Wanderer, mit offenem Mantel, einem kleinen Fez auf dem Kopf, ungeachtet der Sonne.
    Righas, über Rimbaud in Äthiopien
    *
    … auf fürchterlichen Straßen, die an den mutmaßlichen Schrecken von Mondlandschaften gemahnen.
    Rimbaud, in einem Brief aus Kairo
    *
    »L’homme aux semelles de vent.« Der Mann mit den Fußsohlen aus Wind.
    Verlaine über Rimbaud
    *
    Omdurman, Sudan
    Scheich S. lebt in einem kleinen Haus mit Blick auf das Grabmal seines Großvaters, des Mahdi. Auf Papierbögen, die mit Tesafilm zusammengeklebt sind, damit sie eine Schriftrolle ergeben, hat er ein Poem von fünfhundert Stanzen im Stil und im Versmaß von Greys »Elegie« geschrieben. Es trägt den Titel »Klage über die Zerstörung der Sudanesischen Republik«. Er hat mir Unterricht in Arabisch gegeben. Er sagt, daß das »Licht des Glaubens« auf meiner Stirn stehe, und hofft, mich zum Islam zu bekehren.
    Ich sage ihm, daß ich nur dann zum Islam übertreten werde, wenn er einen Dschinn heraufbeschwört.
    »Dschinns«, sagte er, »sind heikel. Aber wir können es versuchen.«
    Nachdem wir einen Nachmittag den Suk von Omdur man nach der richtigen Sorte Myrrhe, Gummiharz und Parfum durchgekämmt haben, sind wir jetzt alle für den Dschinn bereit. Die Gläubigen haben gebetet. Die Sonne ist untergegangen, und wir sitzen in ehrfürchtiger Erwartung vor einer Kohlenpfanne unter einem Papayabaum im Garten.
    Der Scheich versucht es zuerst mit ein bißchen Myrrhe. Rauch steigt in Ringeln hoch.
    Kein Dschinn.
    Er versucht es mit dem Gummiharz.
    Kein Dschinn.
    Er versucht es mit allem, was wir gekauft haben, eins nach dem andern.
    Immer noch kein

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