Traumpfade
Kamikaze-Chauffeur.
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In der Luft, Paris – Dakar
Gestern in der Rue l’Abbé-de-l’Epée zu Abend gegessen. Malraux war da. Ein Bauchredner! Imitierte auf perfekte Weise die Tür zu Stalins Arbeitszimmer, wie sie Gide vor der Nase zugeschlagen wurde. Er und Gide hatten sich aufgemacht, um sich über die Behandlung Homosexueller in Rußland zu beschweren, und Stalin hatte Wind von ihrer Absicht bekommen.
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Dakar
Das Hotel Coq Hardi ist gleichzeitig ein Bordell. Seine Besitzerin, Madame Martine, besitzt ein Fischerboot, und so haben wir langouste zum Abendessen. Eine der beiden im Hause wohnenden Huren, meine Freundin Mamzelle Yo-Yo, trägt einen gewaltigen braunrosa Turban und hat Keulen anstelle von Beinen. Die andere, Madame Jacqueline, hat zwei Stammkunden: Herrn Kisch, einen Hydrologen, und den Botschafter von Mali.
Gestern war es Kischs Abend. Sie erschien mit Armreifen behängt und strahlend auf dem Balkon, die »Mutter von ganz Afrika«, in wehenden indigofarbenen Gewändern. Sie warf ihm einen Handkuß zu, warf einen Bougainvilleazweig hinunter und gurrte: »Herr Kisch, ich komme.«
Heute, als der Mercedes des Botschafters draußen vorfuhr, stürmte sie in einem ihre üppigen Formen betonenden, milchkaffeebraunen Kostüm nach draußen, mit einer wasserstoffblonden Perücke und weißen Schuhen mit hohen Absätzen, und rief mit kreischender Stimme: »Monsieur l’Ambassadeur, je viens!«
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Gorée, Senegal
Auf der Terrasse eines Restaurants hat sich ein fettes französisches Ehepaar mit fruits de mer vollgestopft. Ihr Dachshund, an das Bein des Stuhls gebunden, auf dem die Frau sitzt, springt immer wieder hoch in der Hoffnung, gefüttert zu werden.
Frau zum Dachshund: »Taisez-vous, Roméo! C’est l’entr’acte.«
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Inneres Brennen … Wanderfieber …
Kalevala
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In seinem Buch Die Abstammung des Menschen berichtet Darwin, daß bei einigen Vögeln der Wandertrieb stärker sei als der mütterliche Instinkt. Eine Mutter läßt eher ihre Jungen im Nest zurück, als daß sie ihre Verabredung für die lange Reise nach Süden verpaßt.
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Im Hafen von Sydney
Auf dem Fährschiff zurück von Manly war eine kleine alte Dame, die mich sprechen hörte.
»Sie sind Engländer, nicht wahr?« sagte sie mit einem nordenglischen Akzent. »Ich höre, daß Sie Engländer sind.«
»Ich bin es.«
»Ich auch !«
Sie trug eine Stahlrandbrille mit dicken Gläsern und einen hübschen Filzhut mit einem winzigen blauen Schleier über der Krempe.
»Besichtigen Sie Sydney?« fragte ich sie.
»O Gott, nein, mein Guter!« sagte sie. »Ich lebe seit 1946 hier. Ich bin hergekommen, um bei meinem Sohn hier zu leben, aber dann passierte etwas Seltsames. Als das Schiff hier eintraf, war er gestorben. Stellen Sie sich das mal vor! Ich hatte mein Haus in Doncaster aufgegeben, also dachte ich mir, daß ich genausogut bleiben könnte! Also habe ich meinen zweiten Sohn gebeten, herzukommen und bei mir zu leben. Also kam er her … wanderte aus … und wissen Sie was?«
»Nein.«
»Er starb. Er hatte einen Herzinfarkt und starb.«
»Schrecklich!« sagte ich.
»Ich hatte einen dritten Sohn«, fuhr sie fort. »Er war mein Lieblingssohn, aber er starb im Krieg. Dünkirchen, Sie verstehen! Er war sehr mutig. Ich bekam einen Brief von seinem Offizier. Sehr mutig war er! Er war an Deck … mit brennendem Öl übergossen … und er warf sich ins Meer. Oooh! Er brannte wie eine Fackel bei lebendigem Leib!«
»Das ist wirklich schrecklich!«
»Aber heute ist ein schöner Tag«, lächelte sie. »Ein schöner Tag, nicht wahr ?«
Es war ein klarer sonniger Tag mit hohen weißen Wolken und einer Brise, die vom Meer in Richtung der Küste wehte. Ein paar Yachten, die nach draußen segelten, hielten auf The Heads zu. Andere Yachten hatten das Spinnakersegel gesetzt. Das alte Fährschiff stampfte vor den weißen Schaumkronen auf das Opernhaus und die Brücke zu.
»Und es ist so schön draußen in Manly!« sagte sie. »Ich bin immer so gern mit meinem Sohn nach Manly gefahren … bevor er starb ! Aber ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr dort!«
»Aber es ist doch so nah«, sagte ich.
»Aber ich habe das Haus sechzehn Jahre lang nicht verlassen. Ich war blind, mein Guter! Ich hatte auf beiden Augen den grauen Star und konnte nicht mehr die Hand vor der Nase sehen. Der Augenarzt hatte gesagt, es sei hoffnungslos, und so saß ich da. Stellen Sie sich das mal vor! Sechzehn Jahre im Dunkeln! Und dann kommt dieser nette
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