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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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seines Gefängnislebens hatte Geoff noch nie eine Zelle mit jemandem geteilt. Jetzt wurde er zu einem Italiener gesperrt, der sich Shorty nannte. Das einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihr Alter. Shorty war klein, nur etwa ein Meter sechzig und wog hundertdreißig Pfund. Er trug das Haar so lang, wie die Gefängnisverwaltung es gerade noch zuließ, und hatte mehr Tätowierungen als Zähne. Er besaß ein langes Vorstrafenregister, das schon begonnen hatte, als er noch minderjährig gewesen war. Im Laufe der Jahre war er fünfmal inhaftiert und wieder entlassen worden, und zwar wegen Autodiebstahls, Raubes, der Mitgliedschaft in einem Ring für Prostitution und illegales Glücksspiel und jetzt wegen versuchten Mordes. Er redete gern. Geoff dagegen sprach selten und war daran gewöhnt, tagelang hintereinander mit niemandem zu reden. Shorty hatte Angst vor Geoff. Er traute keinem, der so still war. Geoff war sicher, dass Shorty ihn mit seinem unablässigen Geplapper wahnsinnig machen würde, aber schon nach ein paar Wochen schienen sie gut miteinander auszukommen. Shorty erklärte seinem Zellengenossen, wie man ein Auto kurzschließt, so dass man es ohne Zündschlüssel fahren kann, wie man viele Arten von Safes aufbricht und wie man bei Pferderennen gewinnt.
    Geoff hörte zu, weil Shorty jemanden brauchte, der ihm zuhörte, und während er das tat, schaute er sich die Gesichtszüge des kleinen Italieners genau an. Sie regten sein Interesse am Zeichnen wieder an, das seit seiner Kindheit geschlummert hatte. Im normalen Strafvollzug war es einfacher, sich Gegenstände wie Papier und Stifte zu beschaffen, und so begann er wieder damit, sich als Zeichner zu betätigen.
    Zuerst zerriss er alle Bilder in kleine Stückchen und spülte sie durch die Toilette. Er wusste nicht, wie die Reaktion auf sein neues Hobby ausfallen würde. Aber es gab einen Bedarf an Mustern, die jene Häftlinge verwenden konnten, die andere tätowierten. Die Männer wollten Bilder von Drachen, Schlangen oder Totenköpfen haben und freuten sich über alles Neue und Einzigartige. Bald gewann Geoff den Ruf, solche individuellen Wünsche erfüllen zu können. Er entdeckte auch etwas über sich selbst. Für jedes abstoßende Muster, das er entwarf, musste er zum Ausgleich etwas zeichnen, was dem Auge angenehm war. Er wusste nicht, woher dieser Drang nach Gleichgewicht käme, aber er war so überwältigend, dass er dessen Existenz nicht leugnen konnte. Schließlich widmete er sich ganz offen beiden Kunstformen. Er konnte ein Monster mit langer schwertförmiger Zunge entwerfen, das dann mit Tinte auf den Bizeps von jemandem tätowiert wurde, und am gleichen Tag eine Blumenwiese malen, die irgendein Häftling seiner Mutter zum Geburtstag nach Hause schicken wollte.
    Im Laufe der Jahre hatte er keinen einzigen Besucher. Die Pflichtverteidiger waren mit ihm fertig. Außerhalb der Gefängnismauern hatte er weder Freunde noch Verwandte. Er bekam keine Post. Anscheinend gab es niemanden auf der Welt, der von seiner Existenz wusste oder sich darum kümmerte, aber er hatte sich mit seinem Leben hinter Mauern abgefunden. Er machte das Beste aus der Situation, obwohl er in seinem Herzen fühlte, dass er im australischen Outback auch nicht einsamer hätte sein können.
    Beatrice ging den staubigen roten Weg entlang, der um die Schafsfarm des mächtigen Malcolm Houghton' herumführte. Der Zaun war in gutem Zustand, wie er es verlangte, und das struppige Gras wuchs allmählich nach, wo die Herde es fast abgefressen und den Boden kahlgetreten hatte. Es wehte eine ganz leichte Brise, was die Morgentemperatur so vollkommen machte, dass jemand, der neu in Australien angekommen war, leicht hätte denken können, heute würde es nicht so heiß werden wie gestern. Beatrice aber war nur dankbar, dass ihre nackten Füße hart und schwielig und gegen jeden Wechsel der Jahreszeiten gefeit waren. Die wilde Vegetation der Gegend grünte nach den letzten Regenfällen. Vor Beatrice hob sich ein kleiner Hain aus Bäumen vom Himmel ab, wo der Zaun eine Biegung machte und die westliche Begrenzung des Houghton-Geländes bildete. Es sah so aus, als hinge ein regloser blauer Gegenstand mitten in der Baumgruppe. Beatrice dachte, es sei vielleicht irgendein Zeichen des Wüstenläufers, den sie treffen wollte.
    Sie ging weiter und starrte das blaue Gebilde an, bis ihr klar wurde, dass es sich nicht um einen Gegenstand handelte. Es war eine Aborigine-Frau, die mit dem Rücken oben an einen

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