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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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Baumstamm gelehnt dasaß, die Beine über einen Ast gelegt, als ruhe sie in einem bequemen Liegesessel. Sie trug nur eine offene, blaukarierte Bluse, die ihre schwarze Brust und ein um die Lenden geschlungenes Tuch freigab. Beatrice konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Das Grinsen der Frau in ihrer Stellung dort oben verriet kindliches Entzücken und zeigte gleichzeitig, dass ihr ein Schneidezahn fehlte. Die dunklen Augen der etwa fünfzig Jahre alten Frau, glänzend wie blankpolierte Flusskiesel, glichen denen von Beatrice, aber das ergrauende Haar auf dem Kopf, der vor stiller Begeisterung auf und nieder hüpfte wie das Jojo eines Kindes, war ein Kontrast zu Beatrices dunkelbraunen schulterlangen Locken.
    Das junge Mädchen sprach einen Gruß in einer der Stammessprachen, die sie gelernt hatte, und wartete auf eine Antwort. Sie versuchte es nochmals, aber vergeblich, denn die ältere Frau fuhr nur fort zu lächeln und zu nicken. Nach dem dritten Versuch sagte die Frau in einer der Stammessprachen:
    »Es ist heute!« Sofort stellte Beatrice sich vor und versuchte, ein Gespräch zu beginnen, aber die winzige Frau kletterte überraschenderweise von dem Baum herunter und schickte sich an fortzugehen. Sie war nicht groß, und ihre kräftigen Beine trugen einen kleinen, aber starken und muskulösen Körper. Sie wandte der Farm Houghtons und der nahen Stadt den Rücken zu und ging in Richtung Outback, wo die Vegetation immer spärlicher wurde und schließlich in die kahle Wüste im Herzen des australischen Kontinents überging. Ohne sich umzudrehen, als spreche sie zu dem offenen Gelände vor sich, sagte die Frau auf englisch ganz entschieden: »Wir gehen!«
    »Warte«, antwortete Beatrice verblüfft. »Du sprichst Australisch!«
    Ihre neue Bekannte blieb stehen, wo sie war, drehte sich um und sagte: »Ja, ich habe auch in der Stadtwelt gelebt. Aber jetzt müssen wir gehen, wir müssen in mein Land gehen. Unser Volk hat deinen Hilfeschrei gehört. Du stellst viele Fragen. Wir werden dir helfen, deine Antwort zu finden. Komm, wir gehen!« Und sie setzte sich wieder in Bewegung.
    Beatrice hatte gehofft, dass irgendwann ein Wüstenbewohner kommen würde, aber sie hatte angenommen, sie würden zusammen in die Stadt gehen, und sie selbst würde sich von ihrer Arbeitgeberin verabschieden und jemanden suchen, der ihre Habseligkeiten für sie aufbewahrte. Dann, nachdem alles geregelt wäre, würde sie der Stammesfrau in ihre Heimat folgen. Es lief nicht so, wie sie es geplant hatte.
    Sie schaute auf das Blumenmuster ihres Kleides hinunter, und aus irgendeiner fernen Ecke ihres Geistes tauchte eine Frage auf, über die sie jahrelang nachgedacht hatte und die den letzten Tag eines Menschen auf Erden betraf. Fühlte es sich irgendwie anders an, wenn er am Morgen seines letzten Tages aufwachte? Hatte er, wenn er die Kleidung anzog, in der er sterben sollte, eine Ahnung von der Zukunft? Sie würde heute nicht sterben, aber ganz gewiss schloss sie eine riesige Tür hinter sich. Irgendwie hatte die Frage sich selbst beantwortet. Nein, sagte sie sich, du weißt nicht, wann ein Tag dein letzter ist und die besten Pläne nicht mehr ausgeführt werden, aber du kannst in einer Gemütsverfassung sein, die das akzeptiert. Du kannst glauben, dass etwas Gutes dabei herauskommen wird!
    Sechzehn Jahre lang hatte sie nichts anderes gekannt als das Leben in einem Missionswaisenhaus, ohne Familie, ohne Ahnen, ohne Individualität, eine von vielen Aborigine-Mädchen, die im Heim aufwuchsen. Die folgenden vier Jahre hatte sie ohne einen Ratgeber verbracht, ohne Anleitung, ohne Vertraute, und sie hatte gesucht, ohne eine Ahnung zu haben, wonach sie eigentlich suchte. Sie war eine Verlorene gewesen, die niemandes Tochter war. Heute war der Tag, an dem auch das zu Ende ging. Heute schien es einen Hoffnungsschimmer zu geben, dass sie endlich zu jemandem oder zu etwas in Verbindung treten und tatsächlich fühlen würde, da zu sein, wohin sie gehörte.
    So laut, dass die sich entfernende Wüstenbewohnerin sie hören konnte, rief sie: »Warte, ich komme. Ja, warte auf mich, ich komme!« Sie gingen, ohne zu sprechen, die junge Frau ein wenig hinter der älteren, bis Beatrice schließlich das Schweigen brach und fragte: »Wie weit ist dein Land entfernt? Wie lange werden wir unterwegs sein?«
    Die Frau zeigte mit dem Zeigefinger nach vorn, zog den Finger dann zurück und berührte ihre Handflächen, streckte ihn wieder aus, zog ihn zurück und streckte ihn

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