Traumsammler: Roman (German Edition)
pfiffen durch die Luft, und wir liefen um unser Leben, und plötzlich stolperten wir beide und fielen auf die Nase. Ich war sofort wieder auf den Beinen und rannte weiter, aber dieser Mohammed war nicht in Sicht. Ich drehte mich also um und brüllte: Hoch mit dir, du Esel!«
Baba jan legte eine dramatische Pause ein, presste eine Faust vor die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken. »Da sprang er auf und rannte los, und ihr werdet es nicht glauben: Dieser dumme Hurensohn hatte in beiden Armen einen Berg von Trauben!«
Schallendes Gelächter. Adel lachte auch. Sein Vater strich ihm über den Rücken und zog ihn dicht zu sich heran. Dann begann ein anderer Mann eine Geschichte zu erzählen, und Baba jan griff nach der neben seinem Teller liegenden Zigarette. Doch er kam nicht mehr dazu, sie anzuzünden, denn im Haus ging mit lautem Klirren eine Fensterscheibe zu Bruch.
Im Esszimmer kreischten die Frauen. Irgendetwas aus Metall, eine Gabel oder ein Buttermesser, fiel auf den Marmorboden. Die Männer waren mit einem Satz auf den Beinen. Azmaray und Kabir stürmten mit gezogenen Pistolen in das Zimmer.
»Das kam von der Haustür«, sagte Kabir, und im nächsten Moment ging wieder Glas zu Bruch.
»Bleiben Sie hier, Kommandant Sahib, wir schauen nach«, sagte Azmaray.
»Einen Teufel werd ich hierbleiben«, knurrte Baba jan und stand auf. »Das ist mein Haus. Hier verkrieche ich mich nicht.«
Er ging zur Eingangshalle, dicht gefolgt von Adel, Azmaray, Kabir und allen männlichen Gästen. Adel sah, wie Kabir einen Schürhaken zur Hand nahm. Seine Mutter kam dazu, sie sah bleich und erschrocken aus. Als sie die Eingangshalle betraten, flog ein Stein durch das Fenster, und Scherben regneten auf den Fußboden. Die zukünftige Braut mit den rotgefärbten Haaren kreischte. Draußen schrie jemand.
»Wie zum Teufel ist er am Wachmann vorbeigekommen?«, fragte jemand hinter Adel.
»Nein, Kommandant Sahib!«, brüllte Kabir, aber Adels Vater hatte schon die Tür geöffnet.
Draußen dämmerte es, doch es war Sommer, und so leuchtete der Himmel noch in fahlem Gelb. Adel konnte die fernen Lichter von Shadbagh-e-Nau erkennen, wo sich die Familien zum Abendessen versammelten. Die Hügel am Horizont lagen schon im Dunkeln, und bald würde sich die Nacht in die Täler hinabsenken. Aber es war noch so hell, dass Adel den alten Mann ausmachen konnte, der unten auf der Eingangstreppe stand, einen Stein in jeder Hand.
»Schaff ihn nach oben«, sagte Baba jan über die Schulter zu Adels Mutter. »Sofort!«
Adel spürte, wie seine Mutter ihm eine Hand auf die Schulter legte. Dann führte sie ihn die Treppe hinauf und ging mit ihm durch den Flur bis zum großen Schlafzimmer, das sie mit Baba jan teilte. Sie schloss und verriegelte die Tür, zog die Vorhänge zu und stellte den Fernseher an. Sie führte Adel zum Bett, und sie setzten sich beide. Im Fernsehen wurden zwei Araber in langen Kurta-Hemden gezeigt, die an einem riesigen Truck schraubten.
»Was wird er mit dem alten Mann tun?«, fragte Adel, der sein Zittern nicht in den Griff bekam. »Was wird er mit ihm tun, Mutter?«
Er hob den Blick und sah, wie ein Schatten das Gesicht seiner Mutter überflog, und er wusste auf einmal ganz genau, dass sie ihn anlügen würde.
»Er wird mit ihm reden«, sagte sie mit bebender Stimme. »Er wird den Mann zur Rede stellen, egal, wer es ist. Denn so ist dein Vater. Er spricht mit den Leuten.«
Adel schüttelte den Kopf. Er weinte, schluchzte. »Was wird er tun, Mutter? Was macht er mit dem alten Mann?«
Seine Mutter wiederholte ihre Worte, sagte, alles werde gut, man werde alles regeln, niemandem werde etwas geschehen. Doch je mehr sie sagte, desto lauter schluchzte er, und am Ende war er so erschöpft, dass er im Schoß seiner Mutter einschlief.
* * *
Ehemaliger Kommandant entgeht knapp einem Mordanschlag.
Adel las den Artikel im Arbeitszimmer seines Vaters am Computer. Der Anschlag wurde als »heimtückisch«, der Attentäter als ehemaliger Flüchtling mit »mutmaßlichen Verbindungen zu den Taliban« beschrieben. Mitten im Artikel wurde Adels Vater mit den Worten zitiert, dass er um die Sicherheit seiner Familie gefürchtet habe. Vor allem um die meines unschuldigen, kleinen Sohnes , hatte er gesagt. In dem Artikel stand weder der Name des Attentäters, noch gab er Auskunft über dessen Schicksal.
Adel machte den Computer aus. Er hatte sich heimlich in das Arbeitszimmer seines Vaters geschlichen, denn der Computer war ihm
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