Traumsammler: Roman (German Edition)
beende meinen Bericht und schaue auf die Uhr. Schon 21:30. In Griechenland eineinhalb Stunden früher.
Ruf deine Mutter an, du Esel.
Wenn ich Mamá heute noch anrufen will, kann ich es nicht mehr länger aufschieben. Zumal Thalia in einer ihrer Mails geschrieben hat, dass Mamá immer früher zu Bett geht. Ich hole tief Luft, raffe mich auf. Dann greife ich nach dem Telefon und wähle ihre Nummer.
* * *
Ich habe Thalia im Sommer 1967 kennengelernt. Damals war ich zwölf. Sie war mit ihrer Mutter, Madaline, nach Tinos gekommen, um Mamá und mich zu besuchen. Mamá, deren Name Odelia ist, erzählte mir, dass die letzte Begegnung mit ihrer Freundin Madaline Jahre her sei, fünfzehn Jahre, um genau zu sein. Madaline war mit siebzehn von der Insel nach Athen gegangen und dort Schauspielerin geworden, ohne je den ganz großen Durchbruch geschafft zu haben.
»Dass sie Schauspielerin wurde«, sagte Mamá, »hat mich nicht überrascht. Denn sie war wunderschön. Jeder war hingerissen von Madaline. Das wirst du selbst sehen, wenn du sie kennenlernst.«
Ich fragte Mamá, warum sie nie von ihr erzählt habe.
»Habe ich das wirklich nie getan? Ganz sicher nicht?«
»Ganz sicher.«
»Dabei hätte ich es schwören können.« Dann sagte sie: »Ihre Tochter. Thalia. Sei bitte ganz behutsam mit ihr, sie hatte einen Unfall. Sie ist von einem Hund gebissen worden. Sie hat eine Narbe.«
Mamá sagte nichts weiter darüber, und ich wusste, dass es besser war, sie nicht zu bedrängen. Trotzdem faszinierte mich diese Enthüllung weit mehr als Madalines Film- und Bühnenvergangenheit, und meine Neugier wurde noch größer, weil ich glaubte, dass die Narbe, auf die sie mich extra vorbereitet hatte, riesig und für jedermann zu sehen wäre. Ich konnte es kaum erwarten, sie zu erblicken, war von einer morbiden Neugier erfüllt.
»Madaline und ich haben uns bei der Messe kennengelernt, als wir klein waren«, sagte Mamá. Sie hätten sofort Freundschaft geschlossen und seien unzertrennlich gewesen. Sie hatten im Schulunterricht, in der Pause, in der Kirche oder bei Spaziergängen in den Gerstenfeldern Händchen gehalten. Sie hatten sich geschworen, für immer Schwestern zu sein, stets in der Nähe der anderen zu bleiben, auch nach der Heirat. Und falls der Ehemann darauf bestehe fortzuziehen, wollten sie die Scheidung einreichen. Ich weiß noch, dass Mamá dies mit einem selbstironischen Grinsen erzählte, als wollte sie sich von dem jugendlichen Überschwang, der Dummheit, den überstürzten, unüberlegten Versprechen distanzieren. Doch ihre Miene verriet auch stumme Verletztheit und leise Enttäuschung, nur war sie viel zu stolz, es zuzugeben.
Madaline war inzwischen mit einem reichen und wesentlich älteren Mann namens Andreas Gianakos verheiratet, der vor Jahren ihren zweiten und, wie sich herausstellte, letzten Film produziert hatte. Er war jetzt im Baugeschäft tätig und besaß in Athen eine große Firma. Die beiden, Madaline und Herr Gianakos, hatten kürzlich großen Streit gehabt. Das wusste ich nicht von Mamá. Nein, ich hatte heimlich und hastig einen Teil des Briefes gelesen, in dem Madaline Mamá über ihren Besuch in Kenntnis gesetzt hatte.
Ich habe die Gesellschaft von Andreas und seinen ultrarechten Freunden so satt, zumal sie immer diese martialische Musik hören. Ich halte mich zurück. Ich schweige, wenn sie diese Schwachköpfe von Militärs rühmen, die unsere Demokratie in eine Farce verwandelt haben. Würde ich ihnen auch nur ein einziges Mal widersprechen, wäre ich in ihren Augen eine Anarcho-Kommunistin, dann würden mich nicht einmal die guten Beziehungen von Andreas vor dem Folterkeller bewahren. Vielleicht würde er sich auch gar nicht die Mühe machen – seine Beziehungen spielen lassen, meine ich. Ich denke manchmal, dass er es darauf anlegt, mich zu einer unbedachten Äußerung zu provozieren. Ach, wie ich Dich vermisse, liebe Odie, wie mir Deine Gesellschaft fehlt …
Am Tag der Ankunft ihrer Gäste stand Mamá zeitig auf, um Ordnung zu machen. Wir wohnten in einem kleinen Haus am Hang. Wie die meisten Häuser auf Tinos bestand es aus weißgetünchten Steinen und hatte ein mit roten, rautenförmigen Ziegeln gedecktes Flachdach. Das kleine, oben gelegene Schlafzimmer, das ich mir mit Mamá teilte, hatte keine Tür – die schmale Treppe führte direkt hinein –, aber ein Oberlicht und eine schmale Terrasse mit hüfthohem, schmiedeeisernem Geländer. Von dort hatte man einen Blick auf die Dächer
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