Traumsammler: Roman (German Edition)
eigentlich verboten. Vor einem Monat hätte er das noch nicht gewagt. Er trottete in sein Zimmer, legte sich auf das Bett und warf einen alten Tennisball gegen die Wand, fing ihn auf, warf ihn wieder. Plopp, plopp, plopp. Kurz darauf schaute seine Mutter herein und forderte ihn zuerst freundlich, dann energisch auf, damit aufzuhören, aber er gehorchte nicht. Sie blieb eine Weile in der Tür stehen, dann schlich sie davon.
Plopp, plopp, plopp.
Oberflächlich betrachtet hatte sich nichts verändert. Eine Liste der täglichen Aktivitäten Adels hätte gezeigt, dass er sein Leben weiterführte wie gehabt. Er stand zur gleichen Zeit auf, wusch sich, frühstückte mit seinen Eltern, wurde vom Hauslehrer unterrichtet. Danach aß er zu Mittag, und nachmittags lungerte er herum, sah Filme mit Kabir oder vertiefte sich in Videospiele.
Trotzdem war alles anders. Gholam hatte die Tür einen Spalt weit geöffnet, aber hindurchgestoßen hatte ihn Baba jan. Gedanken, die irgendwo in Adels Hinterkopf geschlummert hatten, waren erwacht. Er hatte das Gefühl, über Nacht einen siebten Sinn bekommen zu haben, der es ihm ermöglichte, Dinge wahrzunehmen, die ihm bisher verborgen geblieben waren, Dinge, die ihm eigentlich schon seit Jahren hätten auffallen müssen. So spürte er, dass seine Mutter Geheimnisse hatte, die er, wenn er sie betrachtete, förmlich an ihrem Gesicht ablesen konnte. Er spürte, wie sehr sie damit rang, ihn vor diesen Dingen zu beschützen, vor all den Dingen, die sie in sich verbarg und wegsperrte, so wie sie beide im großen Haus weggesperrt waren. Und Adel sah das Haus seines Vaters zum ersten Mal als das, was es in den Augen aller anderen Menschen war: eine Monstrosität, eine Beleidigung, ein Monument der Ungerechtigkeit. Und hinter dem eilfertigen Bemühen der Menschen, seinem Vater zu gefallen, spürte er eine Angst – eine Angst, die der wahre Grund für Unterwürfigkeit und Ehrfurcht war. Gholam, dachte er, wäre jetzt sicher stolz auf ihn. Adel war sich zum ersten Mal in aller Klarheit der übergeordneten Vorgänge bewusst, die sein Leben von Anfang an bestimmt hatten.
Und auch der extrem widersprüchlichen Wahrheiten, die ein Mensch in sich trug. Nicht nur, was seinen Vater oder seine Mutter oder Kabir betraf.
Sondern auch ihn selbst.
Diese Entdeckung überraschte Adel am meisten. Die Enthüllung dessen, was sein Vater getan hatte – zuerst im Namen des Dschihad und danach unter dem Vorwand des gerechten Lohns für die von ihm gebrachten Opfer –, hatte zur Folge, dass Adel der Kopf schwirrte. Nachdem die Fensterscheiben eingeworfen worden waren, bekam er jedes Mal Magengrimmen, wenn sein Vater den Raum betrat. Wenn er hörte, wie sein Vater ins Handy brüllte oder im Bad vor sich hinsummte, hatte er das Gefühl, als würde sein Rückgrat brechen, und sein Hals wurde so trocken, dass es schmerzte. Wenn sein Vater ihm vor dem Einschlafen einen Kuss gab, hätte er sich am liebsten weggedreht. Er hatte Albträume. Er träumte, am Rand der Obstwiese zu stehen und zwischen den Bäumen den Hall von Schlägen, das Geräusch splitternder Knochen und berstender Körper zu hören, das Glitzern eines auf und ab sausenden Schürhakens zu sehen. Wenn er aus einem solchen Traum aufschreckte, musste er einen spitzen Schrei unterdrücken. Er wurde von willkürlichen Heulkrämpfen geschüttelt.
Und dennoch.
Und trotzdem.
In Adel ging noch etwas vor. Das neue Bewusstsein verließ ihn zwar nicht, doch ein anderes Wissen trat hinzu, eine Bewusstseinsströmung, die in die entgegengesetzte Richtung floss. Sie verdrängte den neu gewonnenen Sinn nicht, sondern nahm ihren Platz daneben ein. Adel spürte, wie ein Teil seiner Persönlichkeit erwachte, den er als verstörend empfand. Ein Teil, der sowohl allmählich als auch unmerklich jene neue Identität akzeptieren würde, die jetzt noch kratzte wie ein neuer Wollpullover. Adel begriff, dass er am Ende vermutlich alles hinnehmen würde, genau wie seine Mutter dies tat. Anfangs war er wütend auf sie gewesen. Jetzt war er versöhnlicher gestimmt. Vielleicht hatte sie sich ihrem Mann aus Angst gefügt. Oder war durch ihr Luxusleben besänftigt worden. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie sich aus dem gleichen Grund gefügt hatte, der Adel am Ende zum Einlenken bringen würde: Sie hatte es tun müssen. Hatte sie eine andere Wahl gehabt? Adel konnte vor seinem Leben ebenso wenig davonlaufen wie Gholam vor dem seinen. Menschen können sich an die unvorstellbarsten
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