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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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dessen laute, selbstsichere Stimme. Er war während des morgendlichen Unterrichts oft nicht ganz bei der Sache, weil er daran dachte, was sie später spielen und welche Geschichten sie einander erzählen würden. Er hatte Angst, Gholam zu verlieren. Er befürchtete, Gholams Vater, Iqbal, könnte irgendwo eine feste Arbeit oder eine Wohnung finden und mit Gholam in einen anderen Teil des Landes, in eine ferne Stadt ziehen. Adel hatte versucht, sich auf diese Möglichkeit vorzubereiten, sich für den Abschied zu wappnen, der dann anstehen würde.
    Sie saßen eines Tages auf dem Baumstumpf, da fragte Gholam: »Hast du schon mal ein Mädchen gehabt, Adel?«
    »Du meinst …«
    »Ja, genau das.«
    Adel spürte, wie seine Ohren zu glühen anfingen. Er erwog, Gholam zu belügen, wusste aber, dass dieser ihn durchschaut hätte. Also murmelte er: »Du etwa?«
    Gholam zündete sich eine Zigarette an. Er bot Adel auch eine an, und dieses Mal griff Adel zu, warf jedoch einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass der Wachmann nicht um die Ecke linste oder Kabir nicht ins Freie getreten war. Er nahm einen Zug und musste sofort wie verrückt husten. Gholam klopfte ihm grinsend auf den Rücken.
    »Also? Ja oder nein?«, rief Adel. Seine Augen brannten.
    »Ein Freund im Camp«, erzählte Gholam verschwörerisch, »hat mich mal in ein Bordell in Peschawar mitgenommen. Er war eine ganze Ecke älter als ich.«
    Er erzählte die ganze Geschichte. Das kleine, schmutzige Zimmer. Die orangenen Vorhänge, die rissigen Wände, die einsame Glühlampe unter der Decke, die Ratte, die über den Fußboden huschte. Draußen die Geräusche von Rikschas, die auf der Straße hin und her fuhren, klappernde Autos. Und auf der Matratze das junge Mädchen, das einen Teller Birjani aß und mit vollem Mund und ausdrucksloser Miene zu ihm aufsah. Er konnte sogar im Zwielicht erkennen, dass sie ein hübsches Gesicht hatte und kaum älter war als er. Sie pickte die letzten Reiskörner mit einem zusammengefalteten Stück Naan-Brot auf, schob den Teller weg, legte sich hin und wischte die Finger an der Hose ab, während sie diese auszog. 
    Adel hörte wie gebannt zu. Einen solchen Freund hatte er noch nie gehabt. Gholam wusste mehr über die Welt als seine Halbbrüder, obwohl diese einige Jahre älter waren. Und Adels Freunde in Kabul? Alle Söhne von Technokraten, Beamten und Ministern. Jeder von ihnen führte ein ähnliches Leben wie Adel. Die Einblicke, die Gholam in sein Leben gewährte, deuteten auf ein Dasein voller Sorge, Unwägbarkeiten und Mühsal, aber auch voller Abenteuer hin. Ein Dasein, das zwar Welten von dem Adels entfernt war, sich aber zugleich in greifbarer Nähe abspielte. Wenn Adel den Geschichten Gholams lauschte, kam ihm sein eigenes Leben manchmal unglaublich öde vor.
    »Und? Hast du es getan?«, fragte Adel. »Bist du – na, du weißt schon – in ihr drin gewesen?«
    »Nein. Wir haben eine Tasse Chai getrunken und uns über Rumi unterhalten. Was glaubst du denn?«
    Adel wurde rot. »Und wie war das so?«
    Doch Gholam war schon bei einem anderen Thema. So war es oft: Gholam wählte ein Thema aus, stürzte sich mit Feuereifer in eine Geschichte und zog Adel in seinen Bann, nur um irgendwann das Interesse zu verlieren und sowohl die Geschichte als auch Adel in der Luft hängen zu lassen.
    So auch jetzt. Gholam erzählte nicht zu Ende, sondern sagte: »Meine Großmutter sagt, dass ihr Mann Saboor, also mein Großvater, einmal eine Geschichte über diesen Baum erzählt hat. Tja. Natürlich lange, bevor er ihn gefällt hat. Mein Großvater hat ihr die Geschichte erzählt, als die beiden noch Kinder waren. Wenn man einen Wunsch hatte, musste man sich vor den Baum knien und ihm den Wunsch zuflüstern, und wenn der Baum bereit war, ihn zu erfüllen, ließ er genau zehn Blätter auf den Kopf des Bittstellers fallen.«
    »Das habe ich noch nie gehört«, sagte Adel.
    »Tja, wie auch?«
    Adel begriff erst in diesem Moment, was Gholam wirklich gemeint hatte. »Halt mal. Dein Großvater hat unseren Baum gefällt?«
    Gholam sah ihm ins Gesicht. »Euer Baum? Das ist nicht euer Baum.«
    Adel blinzelte. »Was soll das heißen?«
    Gholam sah Adel noch eindringlicher an. Adel konnte zum ersten Mal keine Spur der gewohnten Lebhaftigkeit, des typischen Grinsens oder der Schalkhaftigkeit im Gesicht seines Freundes erkennen. Stattdessen war es wie verwandelt, wirkte plötzlich erschreckend hart und erwachsen.
    »Das war der Baum meiner Familie.

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