Traumsammler: Roman (German Edition)
Dinge gewöhnen. Und so würde es auch ihm ergehen. Denn das war sein Leben. Das war seine Mutter. Das war sein Vater. Und das war er selbst, auch wenn ihm das erst kürzlich bewusst geworden war.
Adel ahnte, dass er seinen Vater nie mehr so bedingungslos lieben würde wie früher, wenn er glücklich in dessen starke Arme gesunken war. Das ging nicht mehr. Aber er würde lernen, seinen Vater auf eine andere Art zu lieben, eine widersprüchlichere, kompliziertere Art. Adel konnte sich selbst dabei zusehen, wie er seine Kindheit mit einem großen Satz hinter sich zurückließ. Nicht mehr lange, dann würde er im Erwachsenendasein landen. Und danach würde es kein Zurück mehr geben, denn das Erwachsenendasein war mit der Rolle des Kriegshelden verwandt, von der sein Vater ihm erzählt hatte. Wenn man ein solcher Held wurde, starb man auch als solcher.
Wenn Adel abends im Bett lag, dachte er daran, dass er bald, vielleicht schon am nächsten oder übernächsten Tag oder in der folgenden Woche zum Feld bei der Windmühle gehen würde, wo Gholams Familie ihr Zelt aufgeschlagen hatte. Sie wären vermutlich längst fort. Und er würde am Straßenrand stehen und sich ausmalen, wie Gholam mit Mutter, Brüdern und Großmutter in einer Karawane abzog, schwer beladen mit ihren staubigen, mit Seilen festgezurrten Habseligkeiten; er würde sich vorstellen, wie sie auf der Suche nach einer neuen Bleibe an den Straßenrändern dahinzogen. Gholam war jetzt das Familienoberhaupt. Er würde arbeiten müssen. Er würde seine Jugend damit verbringen, Kanäle zu reinigen, Gräben auszuheben, Backsteine herzustellen, Felder abzuernten. Gholam würde sich allmählich in einen jener gebeugten, lederhäutigen Männer verwandeln, wie Adel sie oft hinter dem Pflug gehen sah.
Adel stellte sich vor, dass er eine Weile auf dem Feld stehen, die Hügel und die über Shadbagh-e-Nau aufragenden Berge betrachten würde. Und dann, dachte er, würde er aus seiner Tasche holen, was er bei einem Spaziergang auf der Obstwiese gefunden hatte: Die linke Hälfte einer in der Mitte zerbrochenen Brille, mit gesprungenem Glas und getrocknetem Blut auf dem Bügel. Er würde die Brille in einen Graben werfen, und wenn er schließlich umkehrte, um wieder nach Hause zu gehen, würde er wohl vor allem eines verspüren: Erleichterung.
Acht
Herbst 2010
Ich komme abends aus dem Krankenhaus nach Hause und finde auf dem Anrufbeantworter im Schlafzimmer eine Nachricht von Thalia vor. Ich höre sie ab, während ich die Schuhe ausziehe und mich an den Schreibtisch setze. Thalia erzählt, dass sie sich bei Mamá mit einer Erkältung angesteckt hat, fragt dann, wie es mir geht, erkundigt sich nach meiner Arbeit in Kabul. Kurz bevor sie auflegt, sagt sie: Odie fragt sich immer wieder, warum du nie anrufst. Aber sie beschwert sich natürlich nicht bei dir. Deshalb tue ich es, Markos. Um Gottes willen. Ruf deine Mutter an, du Esel.
Ich muss lächeln.
Thalia.
Ein Bild von ihr steht auf meinem Schreibtisch, eines, das ich vor vielen Jahren am Strand von Tinos aufgenommen habe – sie sitzt auf einem Felsen, mit dem Rücken zur Kamera. Ich habe das Foto rahmen lassen, aber wenn man genauer hinschaut, sieht man unten links einen braunen Fleck: Ein verrücktes, italienisches Mädchen wollte das Foto vor vielen Jahren verbrennen.
Ich mache meinen Laptop an und beginne, die Operationsberichte vom Vortag einzutippen. Mein Zimmer befindet sich im Obergeschoss – es ist eines von drei Schlafzimmern in der zweiten Etage des Hauses, in dem ich wohne, seit ich 2002 nach Kabul gekommen bin –, und von meinem Schreibtisch, der am Fenster steht, habe ich einen Blick auf den Garten. Ich kann die Wollmispelbäume sehen, die Nabi, mein früherer Vermieter, vor einigen Jahren gemeinsam mit mir gepflanzt hat. Und ich sehe hinten vor der Mauer Nabis alte, jetzt frisch gestrichene Hütte. Ich bot sie nach seinem Tod einem jungen Niederländer an, der die weiterführenden Schulen der Stadt bei der IT unterstützt. Rechts davon steht Suleiman Wahdatis Chevrolet, Baujahr 1940. Er steht dort seit Jahrzehnten, von Rost bedeckt wie ein Stein von Moos, und weil es gestern zum ersten Mal in diesem Jahr – und noch dazu überraschend früh – geschneit hat, ist er weiß gepudert. Ich wollte das Auto nach Nabis Tod eigentlich zu einem der Schrottplätze Kabuls schleppen lassen, brachte es aber nicht übers Herz. Denn es gehört zu diesem Haus, ist ein fester Bestandteil seiner Geschichte.
Ich
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