Traumsammler: Roman (German Edition)
Porzellan, und Madaline sagt: »O je. O je«, und Mamá eilt die Treppe hinauf und brüllt: »Was ist los? Was hast du angestellt, Markos?«
Sie wurde von einem Hund gebissen , hatte Mamá mich vorgewarnt. Sie hat eine Narbe . Aber der Hund hatte Thalia nicht gebissen, sondern ihr Gesicht angefressen . Vielleicht gab es Worte, um zu beschreiben, was ich an jenem Tag im Spiegel sah, aber das Wort »Narbe« traf es sicher nicht.
Ich weiß noch, dass Mamá mich an der Schulter packte, zu sich herumriss und fragte: »Was hast du? Was ist los mit dir?« Und ich weiß noch, wie sie den Blick über meinen Kopf hob. Ihre Miene gefror. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie wurde kreidebleich. Ihre Hände glitten von meinen Schultern. Und dann erlebte ich etwas Einmaliges, etwas, das ich für noch unwahrscheinlicher gehalten hatte als die Möglichkeit, dass der gute, alte König Konstantin in einem Clownskostüm vor unserer Haustür erschien: Eine einsame Träne, die aus dem rechten Auge meiner Mutter quoll.
* * *
»Und wie war sie?«, fragt Mamá.
»Wer?«
»Wer? Die Französin. Die Nichte deines Vermieters, die Professorin aus Paris.«
Ich halte den Hörer an das andere Ohr. Erstaunlich, dass sie sich daran erinnert. Ich hatte mein Leben lang das Gefühl, dass alles, was ich zu Mamá gesagt habe, so ungehört verhallt ist, als wäre die Verbindung zwischen uns gestört. Wenn ich sie, wie auch jetzt, aus Kabul anrufe, habe ich das Gefühl, als hätte sie den Hörer weggelegt und wäre beiseite getreten, als würde ich in eine Leere zwischen den Kontinenten sprechen – obwohl ich spüren kann, dass meine Mutter noch dran ist, obwohl ich ihren Atem höre. Und wenn ich ihr von einem Erlebnis im Krankenhaus erzähle, zum Beispiel von einem blutüberströmten, vom Vater hereingetragenen Jungen mit Schrapnellsplittern in den Wangen und abgerissenem Ohr, der wie so viele andere Opfer auch zur falschen Tageszeit in der falschen Straße gespielt hat, höre ich urplötzlich ein dumpfes Geräusch. Dann klingt meine Mutter auf einmal gedämpft und weit weg, dann schwankt ihre Stimme, dann höre ich Schritte und ein Geräusch, als würde etwas über den Fußboden geschleift, dann warte ich wie erstarrt, bis ich sie wieder besser verstehen kann, dann erklärt sie mir etwas atemlos: Ich habe ihr gesagt, dass ich stehen will. Ich habe laut und deutlich zu ihr gesagt: Thalia, ich will am Fenster stehen und auf das Meer schauen, während ich mit Markos telefoniere, aber sie sagt: Das ist zu anstrengend, Odie, du musst dich setzen. Dann zerrt sie den Ohrensessel, dieses riesige Ledermöbel, das sie im letzten Jahr für mich gekauft hat, vor das Fenster. Meine Güte, sie hat wirklich Kraft. Du kennst den Ohrensessel ja nicht. Nein, natürlich nicht. Und dann seufzt sie künstlich genervt und bittet mich fortzufahren, nur bin ich längst aus dem Takt. Sie gibt mir damit das Gefühl, ermahnt worden zu sein, und das auch noch zu Recht, weil ich mich irgendwelcher Vergehen schuldig gemacht habe, unausgesprochener Vergehen, die mir nie offen vorgehalten wurden. Und wenn ich fortfahre, scheint das, was ich zu erzählen habe, im Vergleich zu dem Ohrensessel-Drama, das Mamá mit Thalia erleben muss, geradezu lächerlich.
»Wie heißt sie noch?«, fragt Mamá. »Pari Sowieso?«
Ich habe Mamá von meinem guten Freund Nabi erzählt, aber sie kennt sein Leben nur in groben Zügen. Sie weiß, dass er das Haus in Kabul seiner in Frankreich aufgewachsenen Nichte Pari vermacht hat. Sie weiß nichts von Nila Wahdati oder deren Flucht nach Paris nach dem Schlaganfall ihres Mannes, und sie weiß genauso wenig, dass Nabi Suleiman jahrzehntelang gepflegt hat. Die ganze Geschichte. Sie enthält zu viele bedrückende Parallelen. Es wäre, als würde man seinen eigenen Schuldspruch laut vorlesen.
»Ja. Pari. Sie ist sehr nett«, sage ich. »Und warmherzig. Vor allem für eine Akademikerin.«
»Sie ist Chemikerin, oder?«
»Mathematikerin«, erwidere ich und klappe den Laptop zu. Draußen schneit es wieder, im Dunkeln tanzen winzige Flocken, wirbeln gegen das Fenster.
Ich berichte Mamá von dem Besuch, den Pari Wahdati mir im Spätsommer abgestattet hat. Sie war wirklich reizend. Sanft, schlank, das graue Haar zum Knoten aufgesteckt, ein langer Hals mit hervortretender, blauer Vene auf jeder Seite. Wenn sie lächelte, sah man die Lücken zwischen ihren Zähnen. Sie wirkte etwas gebrechlich und älter, als sie tatsächlich war. Schlimmes Rheuma.
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