Traumsammler: Roman (German Edition)
nicht gesagt, dass du so hübsch bist! Oh, und du siehst ihr ähnlich, vor allem die Augenpartie, ja, ich finde, du hast ihre Augen, aber das hat man dir bestimmt schon gesagt. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dich kennenzulernen. Deine Mutter und ich, wir – ach, das hat sie dir sicher erzählt, du kannst dir also vorstellen, wirst ahnen, wie herrlich ich es finde, euch beide zu sehen und dich endlich kennenzulernen, Markos. Markos Varvaris! Tja. Ich bin Madaline Gianakos, und ich bin, das muss ich sagen, entzückt.«
Sie trug cremefarbene, ellbogenlange Satinhandschuhe, und als sie einen ausziehen wollte, musste sie mehrmals an jedem Finger zupfen. Solche Handschuhe hatte ich bis dahin nur in Zeitschriften gesehen, auf Bildern, die elegante Damen bei Soirées zeigten, beim Rauchen auf der breiten Treppe eines Opernhauses, beim Aussteigen aus einer dunklen Limousine, im Blitzlichtgewitter. Nach dem Ausziehen des Handschuhs knickte sie leicht in der Taille ein und bot mir die Hand dar.
»Ja, entzückt«, sagte sie. Trotz der Handschuhe war ihre Hand kühl und weich. »Und dies ist meine Tochter Thalia. Sag Markos Varvaris Guten Tag, Liebes.«
Die Tochter stand neben meiner Mutter in der Tür und sah mich ausdruckslos an, ein schlaksiges Mädchen mit blasser Haut und schlaffen Locken. Davon abgesehen kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht mehr, welche Farbe ihr Kleid hatte, falls sie an jenem Tag eines trug, oder wie ihre Schuhe aussahen. Ich weiß nicht mehr, ob sie Söckchen oder eine Armbanduhr, eine Kette, einen Ring oder Ohrringe trug. Wenn sich jemand, während man in einem Restaurant sitzt, plötzlich nackt ausziehen, auf einen Tisch steigen und mit Teelöffeln jonglieren würde, hätte man nur Augen für diese Person. Genauso erging es mir mit der Maske, die das Mädchen über der unteren Gesichtshälfte trug – diese Maske radierte alles andere aus.
»Thalia, Liebes, sag Guten Tag. Sei nicht unhöflich.«
Das Mädchen schien leicht mit dem Kopf zu nicken.
»Hallo«, sagte ich mit belegter Stimme. Irgendetwas lag in der Luft, ein Knistern, eine Spannung, halb furchtsam, halb fasziniert, ein Gefühl, das in mir aufloderte und leise weiterflackerte. Ich wusste, dass ich das Mädchen anstarrte, konnte den Blick aber nicht von dem himmelblauen Stoff ihrer Maske losreißen, den zwei Bändern, mit denen sie am Hinterkopf befestigt war, dem schmalen Schlitz vor ihrem Mund. Ich wusste sofort, dass ich den Anblick dessen, was die Maske verbarg, nicht ertragen würde. Trotzdem brannte ich darauf, es zu sehen. Mein Leben würde erst wieder in normalen Bahnen verlaufen, erst dann Rhythmus und Struktur wiederfinden, wenn ich gesehen hatte, was man vor den Augen der Welt verbergen musste, weil es zu grauenhaft war.
Die andere Möglichkeit – dass die Maske vielleicht dazu dienen sollte, Thalia vor uns abzuschirmen – kam mir nicht in den Sinn, jedenfalls nicht bei dieser ersten, verwirrenden Begegnung.
Madaline und Thalia gingen nach oben, um ihre Sachen auszupacken. Mamá ging derweil in die Küche, um für das Abendessen Seezungenfilets vorzubereiten. Ich sollte eine Tasse ellinikós kafés für Madaline machen, was ich tat, und brachte die Tasse mit einem kleinen Teller pastelli nach oben.
Das ist Jahrzehnte her, aber bei der Erinnerung an das, was dann geschah, überkommt mich die Scham noch immer wie eine warme, klebrige Flüssigkeit. Ich habe die Szene bis heute vor Augen, sie hat sich mir regelrecht eingebrannt. Madaline steht am Schlafzimmerfenster, raucht eine Zigarette und betrachtet das Meer durch eine runde, dunkle Sonnenbrille, eine Hand auf der Hüfte, die Füße überkreuzt. Ihr Pillboxhut liegt auf der Kommode. Über der Kommode hängt ein Spiegel, und darin sehe ich die mit dem Rücken zu mir auf dem Bett sitzende Thalia. Sie bückt sich gerade, vielleicht, um ihre Schuhe aufzubinden, und ich bemerke, dass sie die Maske abgesetzt hat. Sie liegt neben ihr auf dem Bett. Ich versuche, den kalten Schauder zu unterdrücken, der mir über den Rücken läuft, aber meine Hände zittern so sehr, dass Tasse und Untertasse klirren. Daraufhin dreht sich Madaline zu mir um, und Thalia schaut auf. Ich erblicke ihr Gesicht im Spiegel.
Das Tablett rutscht mir aus den Händen. Das Porzellan geht zu Bruch. Die heiße Flüssigkeit wird verschüttet, und das Tablett poltert die Treppe hinunter. Danach Chaos: Ich hocke auf allen vieren auf dem Fußboden, würge und huste über dem kaputten
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