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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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der anderen Häuser, die Olivenbäume und die Ziegen, auf das Gassengewirr und die Torbögen und natürlich auf die Ägäis, morgens still und blau, und an Sommernachmittagen, wenn der meltemi , der Nordwind, blies, von weißen Schaumkronen bedeckt.
    Nachdem Mamá mit Putzen und Aufräumen fertig war, warf sie sich in den einzigen Sonntagsstaat, den sie besaß und den sie auch immer am fünfzehnten August in der Kirche Panagia Evangelistria trug, wenn der Entschlafung Mariä gedacht wurde. Dann strömten aus der ganzen Mittelmeerregion Pilger herbei, um vor der berühmten Ikone der Kirche zu beten. Es gibt ein Foto, das meine Mutter in diesem Aufzug zeigt: langes, schlichtes, rotgoldenes Kleid mit rundem Ausschnitt, eingelaufener, weißer Pullover, Strümpfe, klobige, schwarze Schuhe. Mamá sieht darauf aus wie die unnahbare Witwe in Person, mit ernstem Gesicht, Stupsnase und dichten Brauen, steifer Haltung und jener frommen, aber verdrossenen Miene, wie sie sonst nur die Pilger aufsetzen. Ich bin auch mit auf dem Foto, stehe stocksteif neben meiner Mutter, der ich bis zur Hüfte reiche. Ich trage eine kurze Hose, ein weißes Hemd und umgekrempelte, weiße Kniestrümpfe. Mein grimmiges Gesicht verrät, dass man mich angewiesen hat, gerade zu stehen und nicht zu lächeln. Mein Gesicht ist geschrubbt, mein Haar mit Wasser geglättet und gegen meinen Willen und trotz lauten Gezeters nach hinten gekämmt worden. Man kann spüren, dass etwas zwischen uns steht, vielleicht ein gewisser Missmut. Das sieht man an unserer steifen Haltung und auch daran, dass wir einen kleinen Abstand zueinander wahren.
    Oder auch nicht. Aber was mich betrifft, so sticht mir all dies stets ins Auge, wenn ich das Foto anschaue, zuletzt vor zwei Jahren. Ich bemerke unweigerlich die Ungeduld, die Anstrengung, den Argwohn. Ich sehe zwei Menschen, die aus familiärem Pflichtgefühl nebeneinander stehen, die schon damals dazu verdammt waren, einander vor den Kopf zu stoßen, zu enttäuschen und abzulehnen, so als hätten sie dies bei ihrer Ehre geschworen.
    Ich sah vom Schlafzimmerfenster aus, wie sie nach Tinos zum Fährhafen aufbrach. Mamá, das Kopftuch unter dem Kinn zusammengebunden, lief mit vorgestrecktem Kopf in den strahlend blauen Tag. Sie war schmal, hatte zarte Knochen und den Körper eines Kindes, aber wenn man sie irgendwo ankommen sah, machte man ihr besser Platz. Ich weiß noch, wie sie mich jeden Morgen zur Schule brachte – sie war früher Lehrerin. Mamá nahm mich nie bei der Hand. Die anderen Mütter taten das, nicht so Mamá. Sie sagte, sie müsse mich behandeln wie alle anderen Schüler auch. Sie marschierte voran, eine Faust am Kragen des Pullovers geballt, und ich versuchte, Schritt zu halten, stolpernd und die Dose mit dem Pausenbrot in der Hand. Ich saß im Klassenraum immer ganz hinten. Ich sehe noch vor mir, wie meine Mutter an der Tafel stand, wie sie jeden Störenfried mit einem einzigen schneidenden Blick zum Verstummen bringen konnte, ein Blick wie ein mit einer Schleuder abgefeuerter Stein, der sein Ziel nie verfehlte. Ein kurzer, finsterer Blick, ein plötzliches, knappes Schweigen, und man gefror innerlich.
    Mamá hielt Treue für den höchsten aller Werte, und sei es auf Kosten von Selbstverleugnung. Vor allem auf Kosten von Selbstverleugnung. Sie glaubte auch, dass man immer die Wahrheit sagen müsse, offen und ohne großes Getue; je unangenehmer die Wahrheit, desto rascher heraus damit. Sie hatte keine Geduld mit rückgratlosen Menschen. Sie war – ist – eine Frau, die keine Ausflüchte kennt, eine Frau von unbeugsamer Willenskraft und ganz sicher keine Person, mit der man sich anlegen möchte – obwohl ich mich bis heute frage, ob ihr Wesen gottgegeben war oder ob sie es sich nach dem Tod ihres Mannes hatte aneignen müssen, der ein knappes Jahr nach der Heirat starb und ihr so die Last meiner Erziehung überließ.
    Ich schlief kurz nach Mamás Aufbruch ein. Irgendwann riss mich eine hohe, durchdringende Frauenstimme aus dem Schlaf. Ich richtete mich auf, und da stand sie, lächelte mich durch den Schleier ihres Pillboxhutes an wie ein Model auf dem Werbeplakat für eine Fluglinie, mit Parfüm, Puder und Lippenstift, mit schlankem Körper, langen Beinen und rotbraunen Haaren. Sie trug ein neongrünes Minikleid und stand mitten im Raum, vor sich eine Reisetasche aus Leder, lächelte mich strahlend an und redete fröhlich, ja euphorisch auf mich ein.
    »Du bist also Odies kleiner Markos! Sie hat mir ja gar

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