Traumsammler: Roman (German Edition)
Ihre Hände waren etwas steif, und wenn sie sie auch noch bewegen konnte, wusste sie doch, dass der Tag kommen würde. Ich musste dabei an Mamá und das Kommen ihres Tages denken.
Pari Wahdati blieb eine Woche im Haus in Kabul. Ich führte sie gleich nach ihrer Ankunft aus Paris herum. Sie hatte das Haus zuletzt im Jahr 1955 gesehen und war überrascht, wie gut sie sich daran erinnern konnte, an den Schnitt der Räume oder an die zwei Stufen zwischen Wohn- und Esszimmer, auf denen sie, wie sie erzählte, vormittags oft gesessen und im hereinfallenden Sonnenschein ihre Bücher angeschaut hatte. Es erstaunte sie, dass das Haus viel kleiner war, als sie es in Erinnerung hatte. Als ich sie nach oben führte, wusste sie sofort, wo ihr Schlafzimmer gewesen war, in dem zurzeit ein deutscher, für die Welthungerhilfe arbeitender Kollege wohnt. Ihr Atem stockte, als sie in einer Ecke des Zimmers den kleinen Sekretär erblickte – eines der wenigen Überbleibsel aus ihrer Kindheit. Sie hockte sich daneben und strich über die abblätternde, gelbe Farbe, die verblassenden Giraffen und langschwänzigen Affen auf der Klappe. Als sie zu mir aufsah, hatte sie Tränen in den Augen, und sie fragte mich sehr schüchtern, fast entschuldigend, ob man ihn nach Paris schicken könne. Sie bot an, für Ersatz zu sorgen. Sie wollte nur diesen Sekretär, sonst nichts. Ich antwortete, dass ich das gern für sie veranlassen würde.
Bis auf den Sekretär, den ich einige Tage nach ihrer Abreise auf den Weg gebracht habe, kehrte Pari Wahdati nur mit den Skizzenbüchern Suleiman Wahdatis, mit Nabis Brief und einigen von Nabi geretteten Gedichten Nilas nach Frankreich zurück. Die einzige andere Bitte, die sie während ihres Besuchs an mich herantrug, bestand darin, sie nach Shadbagh zu fahren, weil sie ihren Geburtsort sehen wollte und dort ihren Halbbruder Iqbal wiederzufinden hoffte.
»Sie wird das Haus sicher verkaufen«, sagt Mamá. »Jetzt, da es ihr gehört.«
»Sie sagt, dass ich hier so lange wohnen kann, wie ich will.«
»Mietfrei.«
Ich sehe es förmlich vor mir, wie Mamá in diesem Moment skeptisch die Lippen aufeinanderpresst. Sie ist eine Inselbewohnerin. Sie misstraut Menschen vom Festland, stellt deren vermeintlich guten Absichten in Frage. Schon allein deshalb wusste ich bereits als Junge, dass ich Tinos bei der erstbesten Gelegenheit verlassen musste. Wenn die Leute so redeten, überkam mich immer ein gewisser Unmut.
»Wie geht es mit dem Taubenschlag voran?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.
»Ich musste eine Pause einlegen. Es hat mich zu sehr erschöpft.«
Vor sechs Monaten wurde Mamá in Athen von einem Neurologen untersucht. Ich hatte darauf bestanden, weil Thalia berichtete, dass Mamá wiederholt Zuckungen hatte und immer häufiger Sachen fallen ließ. Seit der Fahrt zum Neurologen ist Mamá ziemlich rastlos, wie ich aus Thalias E-Mails weiß. Sie hat das Haus neu gestrichen, hat Rohrleitungen repariert, Thalia überredet, ihr beim Bau eines neuen Schrankes für die obere Etage zu helfen, und wollte sogar kaputte Dachziegel austauschen, was Thalia zum Glück unterband. Nun der Taubenschlag. Ich stelle mir vor, wie Mamá mit aufgekrempelten Ärmeln und verschwitztem Rücken Bretter abschmirgelt und mit dem Hammer auf Nägel eindrischt. Es ist ein Wettlauf gegen ihre versagenden Nervenbahnen. Der Versuch, diese während der noch verbleibenden Zeit so gut wie möglich einzusetzen.
»Wann kommst du nach Hause?«, fragt Mamá.
»Bald«, sage ich. Vor einem Jahr fragte sie das Gleiche, und ich sagte auch »bald«. Mein letzter Besuch auf Tinos ist zwei Jahre her.
Ein kurzes Schweigen. »Warte nicht zu lange. Ich möchte dich noch einmal sehen, bevor man mich an die eiserne Lunge hängt.« Sie lacht. Sie hatte immer schon die Angewohnheit, Schicksalsschlägen mit Albernheiten und Witzen zu begegnen. Sie verabscheut jedes Selbstmitleid. Das paradoxe – und, wie ich weiß, beabsichtigte – Resultat dieser Haltung besteht darin, dass jedes Übel sowohl kleingeredet als auch aufgeblasen wird.
»Komm am besten an Weihnachten«, sagt sie. »Auf jeden Fall vor dem vierten Januar. Thalia hat gesagt, dass man dann eine Sonnenfinsternis über Griechenland sehen kann. Das hat sie im Internet gelesen. Wir könnten sie zusammen anschauen.«
»Ich versuche es, Mamá«, sage ich.
* * *
Es fühlte sich so an, als würde man eines Morgens nach dem Erwachen feststellen, dass ein wildes Tier ins Haus eingedrungen ist. Ich
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