Traumsammler: Roman (German Edition)
fühlte mich nirgendwo mehr sicher. Sie schien immer und überall zugleich zu sein, verfolgte mich, lauerte mir auf und tupfte mit einem Taschentuch den unablässig fließenden Speichel von ihrer Wange. Ich konnte ihr nicht entkommen, denn unser Haus war zu klein. Die Mahlzeiten fürchtete ich am meisten, weil ich dann mitansehen musste, wie Thalia ihre Maske hob, um zu essen. Bei diesem Anblick und dem damit einhergehenden Geräusch drehte sich mir der Magen um. Sie schmatzte laut, und ständig fiel halbzerkautes Essen zurück auf den Teller oder den Tisch und manchmal auf den Fußboden. Sie musste alle Flüssigkeiten, sogar Suppen, mit Strohhalmen zu sich nehmen, die ihre Mutter stapelweise in ihrer Handtasche mit sich führte. Sie schlürfte und blubberte, wenn sie Brühe durch den Strohhalm saugte, und kleckerte auf Maske, Kinn und Hals. Beim ersten Mal bat ich, vom Tisch aufstehen zu dürfen, aber Mamá sah mich nur scharf an, und so lernte ich, den Blick abzuwenden und mich taub zu stellen, ein hartes Stück Arbeit. Wenn ich die Küche betrat, saß Thalia reglos da, während Madaline zur Vorbeugung gegen wunde Stellen Salbe auf ihre Wange strich. Ich legte einen Kalender an und zählte insgeheim die Tage der vier Wochen, die Madaline und Thalia laut Mamá bei uns verbringen wollten.
Wäre Madaline nur allein gekommen. Ich mochte Madaline. Wenn wir zu viert auf dem kleinen, quadratischen Hof vor der Haustür saßen, nippte sie am Kaffee und qualmte eine Zigarette nach der anderen. Der Schatten des Olivenbaums fiel auf ihr Gesicht, und sie trug einen goldgelben Strohhut, der an jeder anderen Frau, auch an Mamá, lächerlich ausgesehen hätte. Doch sie war einer jener Menschen mit angeborener Eleganz – so wie andere die Gabe haben, die Zunge rollen zu können. Madaline sorgte dafür, dass nie eine Gesprächspause eintrat; sie steckte voller Geschichten. Eines Vormittags erzählte sie von ihren Reisen, zum Beispiel der nach Ankara, wo sie am Ufer des Enguri Su spazieren gegangen war und grünen Tee mit Raki getrunken hatte. Oder von der Kenia-Reise mit Herrn Gianakos, auf der sie zwischen dornigen Akazien auf Elefanten geritten waren und gemeinsam mit den Eingeborenen Maismehlbrei und Reis mit Kokosnuss gegessen hatten.
Madalines Geschichten weckten eine alte Rastlosigkeit in mir, den immer schon in mir gärenden Drang, blindlings in die Welt hinauszuziehen, denn ich empfand mein Leben auf Tinos als furchtbar öde. Mein Leben, befürchtete ich, würde sich ereignislos immer weiter ins Nichts bewegen, und deshalb hatte ich während meiner Jugend auf Tinos meist das Gefühl, den anderen etwas vorzumachen, ein Lückenbüßer für mein wahres Selbst zu sein, das an einem anderen Ort zu Hause war und darauf wartete, sich eines Tages mit meinem wie ausgehöhlten Ersatz-Selbst vereinen zu können. Ich fühlte mich gestrandet. Wie ein Fremder in der eigenen Heimat.
Madaline erzählte, dass sie im Kugulu-Park in Ankara Schwäne gesehen habe, die über das Wasser geglitten seien. Sie sagte, dass Wasser habe nur so geglitzert.
»Na, ich übertreibe«, sagte sie lachend.
»O nein«, sagte Mamá.
»Eine alte Angewohnheit. Ich rede zu viel. Das war immer schon so. Weißt du noch, wie viel Ärger wir bekamen, weil ich im Unterricht so viel geredet habe? Du warst immer brav, Odie. Verantwortungsbewusst und fleißig.«
»Ich finde deine Geschichten interessant. Du hast ein spannendes Leben.«
Madaline verdrehte die Augen. »Na, du kennst ja den chinesischen Fluch.«
»Hat es dir in Afrika gefallen?«, wollte Mamá von Thalia wissen.
Thalia drückte sich ein Taschentuch gegen die Wange und schwieg. Ich war froh darüber, denn sie sprach sehr sonderbar. Es klang immer irgendwie feucht, und sie lispelte und gurgelte zugleich.
»Ach, Thalia reist nicht gern«, sagte Madaline, als wäre dies eine eherne Wahrheit, und drückte ihre Zigarette aus. Sie sah nicht zu Thalia; ihr schien es egal zu sein, ob ihre Tochter dies bejahte oder sich dagegen verwahrte. »Sie hat keinen Spaß daran.«
»Ich auch nicht«, sagte Mamá an Thalia gewandt. »Ich bin gern zu Hause. Ich habe nie einen Grund gesehen, Tinos den Rücken zu kehren.«
»Und ich keinen, um zu bleiben«, sagte Madaline. »Von dir einmal abgesehen.« Sie berührte Mamá am Handgelenk. »Weißt du, wovor ich mich am meisten gefürchtet habe, als ich von hier fortgegangen bin? Was mir am schwersten im Magen lag? Die Frage, wie ich ohne dich zurechtkommen würde, Odie.
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