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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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überrascht mich nicht. So ist sie eben, unsere Odelia Varvaris.«
    Mamá faltete den auf ihrem Schoß liegenden Schürzensaum und strich ihn mit abwesender Miene wieder glatt.
    »Eines Abends kam ich hier an. Meine Zunge blutete, an der Schläfe war ein ganzes Büschel Haare ausgerissen, mein Ohr brannte noch von einem Schlag. Er hatte mich so richtig in die Mangel genommen. In was für einem Zustand ich damals war!« So, wie sie es erzählte, hätte es auch die Schilderung eines üppigen Essens oder eines guten Romans sein können. »Deine Mutter hat keine Fragen gestellt, denn sie wusste ja Bescheid. Ich stand zitternd vor ihr, und sie sah mich lange an, und dann sagte sie – ich weiß es noch wie heute, Odie, du sagtest: Jetzt ist das Maß voll . Sie sagte: Wir werden deinem Vater jetzt einen Besuch abstatten, Maddi. Ich flehte sie an, es nicht zu tun, weil ich Angst hatte, er würde uns beide umbringen, aber du weißt ja, wie deine Mutter ist.«
    Ich nickte, und Mamá sah mich kurz von der Seite an.
    »Sie wollte nicht auf mich hören. Sie hatte diesen Blick. Du kennst diesen Blick bestimmt. Sie geht nach draußen, aber vorher schnappt sie sich noch die Jagdflinte ihres Vaters. Auf dem Weg zu unserem Haus versuche ich immer wieder, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, und behaupte, er hätte mir gar nicht so weh getan. Aber sie will nichts davon wissen. Wir gehen bis zu unserer Haustür, und da ist mein Vater, er steht auf der Schwelle, und Odie legt das Gewehr an, stößt die Mündung gegen sein Kinn und sagt: Wenn du das noch ein Mal machst, jage ich dir mit dieser Flinte eine Ladung Schrot ins Gesicht.
    Mein Vater blinzelt, er ist kurz überrumpelt. Er bringt keinen Ton hervor. Und weißt du, was das Beste war, Markos? Als ich den Blick senke, sehe ich eine kleine Pfütze auf dem Boden, eine Pfütze von, na, du weißt schon, die sich zwischen seinen nackten Füßen ausbreitet.«
    Madaline strich ihr Haar zurück und sagte, während sie das Feuerzeug klicken ließ: »Und das, mein Lieber, ist eine wahre Geschichte.«
    Diese letzten Worte waren überflüssig. Denn ich wusste, dass es stimmte. Ich kannte Mamás felsenfeste Entschlossenheit, ihre ungebrochene, unbedingte Treue. Ihren Impuls und ihr Bedürfnis, gegen Ungerechtigkeiten anzugehen, die Retterin der Erniedrigten und Entrechteten zu sein. Außerdem verriet mir das unterdrückte Seufzen, das Mamá bei der Erwähnung der Pfütze von sich gab, dass es stimmte. Sie empfand dieses Detail nicht nur als geschmacklos, sondern sie missbilligte es, weil sie der Ansicht war, dass jeder Mensch, auch wenn er zu Lebzeiten ein Ekel gewesen war, nach dem Tod ein Mindestmaß an Würde verdient hatte. Vor allem, wenn es sich um einen nahen Verwandten handelte.
    Mamá rutschte auf ihrem Stuhl herum und fragte: »Du reist also nicht gern, Thalia. Aber du hast sicher andere Interessen, nicht wahr?«
    Wir sahen Thalia an. Madaline hatte lange geredet, und als wir so dasaßen, umgeben von Lichtflecken, die die Sonne auf unseren Hof warf, kam mir der Gedanke, dass Madaline nicht ohne Grund die Begabung hatte, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sich selbst so sehr in den Mittelpunkt zu rücken, dass Thalia ganz in den Hintergrund trat. Gut möglich, dass beide diese Routine – die stille Tochter, die von ihrer egozentrischen, unterhaltsamen Mutter ausgeblendet wurde – zwangsläufig entwickelt hatten. Vielleicht war Madalines Narzissmus ein Ausdruck ihres mütterlichen Beschützerinstinkts, vielleicht wollte sie damit etwas Gutes tun.
    Thalia murmelte etwas.
    »Wie bitte?«, sagte Mamá.
    »Etwas lauter, Liebes«, sagte Madaline.
    Thalia räusperte sich heiser und sagte dann: »Naturwissenschaften.«
    Mir fiel zum ersten Mal auf, dass ihre Augen von dem Grün einer Frühlingswiese waren. Sie hatte kräftiges, dunkles Haar und die makellose Haut ihrer Mutter, und ich fragte mich, ob sie früher hübsch, vielleicht sogar so schön wie Madaline gewesen war.
    »Erzähl ihnen von der Sonnenuhr, Liebes«, sagte Madaline.
    Thalia zuckte mit den Schultern.
    »Sie hat eine Sonnenuhr gebaut«, sagte Madaline. »Hinten in unserem Garten. Im letzten Sommer. Ganz allein. Andreas hat ihr nicht geholfen, und ich sowieso nicht.« Sie gluckste.
    »Senkrecht oder waagerecht?«, fragte Mamá.
    In Thalias Augen blitzte Verwunderung auf. Ungläubigkeit. Wie bei einer Person, die in einer fremden Stadt durch eine belebte Straße geht und plötzlich Wortfetzen in ihrer Muttersprache hört.

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