Traumsammler: Roman (German Edition)
Das schwöre ich. Ich war wie versteinert bei diesem Gedanken.«
»Wie mir scheint, bist du gut zurechtgekommen«, antwortete Mamá und riss den Blick von Thalia los.
»Du verstehst nicht«, sagte Madaline, und mir wurde bewusst, dass sie mich meinte, denn sie sah mich direkt an. »Ohne deine Mutter wäre ich zerbrochen. Sie hat mich gerettet.«
»Jetzt übertreibst du wirklich«, sagte Mamá.
Thalia hob den Kopf. Sie blinzelte in die Sonne. Am blauen Himmel zog ein lautloser Düsenjet einen langen, einsamen Kondensstreifen hinter sich her.
»Odie hat mich vor meinem Vater gerettet«, sagte Madaline. Ich wusste nicht, ob sie sich noch immer an mich richtete. »Er gehörte zu diesen Menschen, die schon bösartig auf die Welt kommen. Er hatte Glubschaugen, einen kurzen, dicken Hals und ein dunkles Muttermal auf dem Nacken. Und Fäuste. Fäuste wie Backsteine. Wenn er nach Hause kam, musste er gar nichts tun. Es reichte schon, dass ich seine Schritte im Flur hörte, das Klimpern der Schlüssel, sein Summen. Wenn er in Wut geriet, kniff er die Augen zusammen und schnaubte, und dann rieb er sein Gesicht und sagte: Na gut, Mädchen, na gut , und dann wusste ich, was kommen würde, nämlich ein Sturm, der unaufhaltsam über mich hereinbrechen würde. Niemand konnte ihn aufhalten. Mir wurde manchmal schon schwarz vor Augen, wenn er nur sein Gesicht rieb oder in seinen Schnurrbart schnaubte.
Ich bin seither immer wieder Männern wie ihm begegnet. Ich wünschte, es wäre nicht so gewesen. Aber so war es, und ich weiß aus Erfahrung, dass man nur ein bisschen genauer hinsehen muss, um zu entdecken, dass sie alle mehr oder weniger gleich sind. Ja, manche sind feiner, und manche sind charmant, zum Teil sogar sehr charmant, aber das täuscht. Denn in Wahrheit sind sie alle unglückliche, kleine Jungs, die sehr wütend sind. Sie glauben, man hätte ihnen unrecht getan. Sie fühlen sich zu kurz gekommen. Nicht genug geliebt. Und sie erwarten, geliebt zu werden. Sie möchten, dass man sie umarmt, sie bestätigt, aber es ist ein Fehler, das zu tun. Sie können es sowieso nicht annehmen. Sie nehmen genau das, was sie am meisten brauchen, nicht an. Und am Ende hassen sie einen dafür, dass man es ihnen zu geben versucht. Sie können einen nicht genug dafür hassen, und deshalb nimmt es nie ein Ende: die Qualen, die Entschuldigungen, die Versprechungen, die Wortbrüche, das ganze erbärmliche Elend. Mein erster Mann war so.«
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. In meiner Gegenwart hatte noch nie jemand so offen gesprochen, schon gar nicht Mamá. Niemand, den ich kannte, hatte sich jemals so offen über sein Schicksal ausgelassen. Ich empfand das als peinlich, zugleich bewunderte ich Madaline für ihren Mut.
Bei der Erwähnung ihres ersten Mannes fiel mir auf, dass sich zum ersten Mal, seit ich sie kennengelernt hatte, ein Schatten auf ihr Gesicht legte, die flüchtige Andeutung von etwas Finsterem, Gequältem und Verletztem, das im Widerspruch zu ihrem herzlichen Lachen, ihren Scherzen und ihrem bunten, mit einem Kürbismuster bedruckten Kleid stand. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, sie müsse eine wirklich gute Schauspielerin sein, um Wunden und Enttäuschungen mit so viel Fröhlichkeit übertünchen zu können. Wie eine Maske, dachte ich, und war insgeheim stolz darauf, diesen klugen Bezug hergestellt zu haben.
Später, als ich älter war, schien mir die Sache nicht mehr so einfach zu sein. Wenn ich daran zurückdenke, hatte die Art, wie sie innehielt und dann ihren ersten Mann erwähnte, wie sie den Blick senkte, wie es ihr kurz die Sprache verschlug und ihre Lippen bebten, etwas Aufgesetztes. Das galt auch für ihre überschäumende Lebhaftigkeit, ihre Scherze, ihren sprühenden, manchmal etwas unbeholfenen Charme, ja sogar für ihre von einem beruhigenden Augenzwinkern und Lachen begleiteten, sanften Ermahnungen. Vielleicht war beides aufgesetzt. Vielleicht war beides natürlich. Ich konnte Echtheit und Schauspielerei nicht mehr voneinander unterscheiden – was sie in meinen Augen jedoch zu einer ungleich interessanteren Schauspielerin machte.
»Wie oft bin ich zu dir gerannt, Odie?«, fragte Madaline, die jetzt wieder lächelte. »Deine armen Eltern. Aber dieses Haus war mein sicherer Hafen. Meine Zuflucht. O ja. Eine kleine Insel auf der großen.«
»Du warst hier immer willkommen«, sagte Mamá.
»Deine Mutter hat den Prügeln ein Ende gesetzt, Markos. Hat sie dir das je erzählt?«
Ich verneinte.
»Das
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