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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Thalia tippte mir beim Lernen mit dem Stift auf die Schulter und hob das Kinn, und wenn ich mich umdrehte, sah ich ein Kind, manchmal auch mehrere, die die Nase an der Scheibe plattdrückten. Die Belästigung nahm solche Ausmaße an, dass wir nach oben gehen und die Vorhänge zuziehen mussten. Eines Tages stand Petros, ein Junge, den ich aus der Schule kannte, mit drei Freunden vor der Tür. Er bat um einen kurzen Blick und bot mir dafür eine Handvoll Kleingeld an. Ich lehnte ab und fragte ihn, was dieses Haus seiner Meinung nach sei – ein Zirkus?
    Schließlich musste ich Mamá informieren. Als sie hörte, was los war, fingen ihre Wangen an zu glühen. Sie biss die Zähne zusammen.
    Am nächsten Morgen hatte sie unsere Bücher und zwei Pausenbrote unten auf dem Tisch bereitgelegt. Thalia, die schneller begriff als ich, krümmte sich wie ein welkes Blatt. Und als wir aufbrechen wollten, begann sie zu protestieren.
    »Nein, Tante Odie.«
    »Gib mir deine Hand.«
    »Nein. Bitte nicht.«
    »Komm schon. Gib sie mir.«
    »Ich will aber nicht.«
    »Wir kommen zu spät.«
    »Bitte zwing mich nicht dazu, Tante Odie.«
    Mamá ergriff Thalia bei den Händen und zog sie vom Stuhl, beugte sich zu ihr hinab und sah sie mit festem, mir wohlbekanntem Blick an. Nichts auf Erden konnte sie jetzt noch aufhalten. »Thalia«, sagte sie sanft und entschieden, »ich schäme mich nicht für dich.«
    Also brachen wir auf, alle drei, Mamá mit zusammengepressten Lippen und als müsste sie gegen starken Gegenwind ankämpfen. Sie ging mit kurzen, schnellen Schritten. Ich stellte mir vor, dass Mamá, die Jagdflinte in der Hand, damals mit genau diesen Schritten zu Madalines Vater marschiert war.
    Die Leute hielten den Atem an und glotzten, wenn wir auf den Schlängelpfaden an ihnen vorbeikamen. Sie blieben stehen, um uns anzustarren. Manche zeigten auf uns. Ich mochte nicht hinschauen, sah aus den Augenwinkeln nur bleiche, verschwommene Gesichter mit offenen Mäulern.
    Auf dem Schulhof kreischte ein Mädchen, und die Kinder wichen uns aus. Mamá stob durch sie hindurch wie eine Bowlingkugel durch Kegel. Sie musste Thalia regelrecht mitzerren, und sie bahnte sich einen Weg bis zu einer Bank in der Ecke des Schulhofes. Sie stieg auf die Bank, half Thalia hinauf und blies drei Mal in ihre Trillerpfeife. Auf dem Hof trat Totenstille ein.
    »Das ist Thalia Gianakos«, rief Mamá. »Ab heute …« Sie hielt kurz inne. »Ich weiß nicht, wer da schreit, aber er sollte besser den Mund halten, denn sonst hat er gleich einen guten Grund für sein Geschrei. Also: Ab heute geht Thalia hier zur Schule. Ich erwarte von euch, dass ihr sie anständig und zuvorkommend behandelt. Sollte mir zu Ohren kommen, dass ihr sie ärgert oder aufzieht, werde ich die Verantwortlichen finden und dafür sorgen, dass sie es bereuen. Ihr wisst, dass das keine leeren Worte sind. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.«
    Sie stieg von der Bank und ging mit Thalia an der Hand Richtung Klassenzimmer. Von diesem Tag an trug Thalia ihre Maske nie mehr, weder zu Hause noch in der Öffentlichkeit. 
    * * *
    Einige Wochen vor Weihnachten bekamen wir Post von Madaline. Die Dreharbeiten zögen sich unerwartet in die Länge, schrieb sie. Zuerst sei der erste Kameramann am Set vom Gerüst gestürzt und habe sich dreifach den Arm gebrochen. Dann habe das Wetter die Außenaufnahmen erschwert.
    Wir befinden uns also in einer Art Warteschleife, wie es hier so schön heißt. Immerhin haben wir nun die Zeit, manches im Drehbuch zu verbessern. Die Verzögerung wäre also nicht weiter schlimm, nur bedeutet sie leider, dass ich nicht zum erhofften Zeitpunkt bei Euch sein kann. Ich bin zerknirscht, meine Lieben. Ihr fehlt mir alle so sehr, vor allem Du, Thalia, mein Liebling. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Tage bis zum Frühling zu zählen – dann werden die Dreharbeiten abgeschlossen sein, dann werde ich Euch endlich wiedersehen. Ihr seid immer in meinem Herzen, jede Minute, jeden Tag.
    »Sie kommt nicht wieder«, sagte Thalia tonlos und gab Mamá den Brief zurück.
    »Natürlich kommt sie!«, sagte ich wie vor den Kopf gestoßen. Ich drehte mich zu Mamá um, erwartete, dass sie irgendetwas dazu sagen, uns wenigstens ermutigen würde. Aber Mamá faltete stumm den Brief zusammen, legte ihn auf den Tisch und setzte Kaffeewasser auf. Ich weiß noch, dass ich ihr insgeheim vorwarf, Thalia mit keinem Wort getröstet zu haben, auch wenn diese sich mit Madalines Ausbleiben abgefunden

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