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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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hatte. Ich ahnte nicht – noch nicht – dass sie einander verstanden, vielleicht sogar besser, als ich sie beide verstand. Mamá hatte zu viel Respekt vor Thalia, um sie zu bemuttern. Sie wollte Thalia nicht mit falschen Versprechungen beleidigen.
    Dann kam der Frühling in all seiner üppigen, grünen Pracht und verging wieder. Madaline schickte uns eine Postkarte und einen offenbar hastig geschriebenen Brief, in dem sie von weiteren Problemen beim Dreh berichtete, dieses Mal im Zusammenhang mit den Produzenten, die sich wegen der vielen Verzögerungen querzustellen drohten. Und anders als in ihrem ersten Brief nannte sie keinen Zeitpunkt mehr für ihre Rückkehr.
    Eines warmen Sommernachmittags – es muss 1968 gewesen sein – gingen Thalia und ich mit einem Mädchen namens Dori zum Strand. Zu jenem Zeitpunkt hatte Thalia schon ein Jahr bei uns auf Tinos gewohnt, und ihr entstelltes Gesicht sorgte nicht mehr für Getuschel und Aufsehen. Sie weckte zwar immer noch Neugier – und würde dies wohl auch für immer tun –, aber weniger als zuvor. Sie hatte inzwischen eigene Freunde, unter anderem Dori, die nicht mehr vor ihrem Äußeren zurückschreckten, Freunde, mit denen sie zusammen Mittag aß, redete, lernte oder nach der Schule spielte. Sie war wider Erwarten zu einer fast normalen Erscheinung geworden, und ich musste die Inselbewohner ein Stück weit dafür bewundern, dass sie sie als eine der ihren akzeptiert hatten.
    Wir hatten eigentlich baden gehen wollen, aber weil das Wasser noch zu kalt war, dösten wir lieber auf den Felsen. Als ich mit Thalia heimkehrte, schälte Mamá in der Küche gerade Möhren. Auf dem Tisch lag ein ungeöffneter Brief.
    »Von deinem Stiefvater«, sagte Mamá.
    Thalia ging mit dem Brief nach oben. Es dauerte lange, bis sie wieder hinunterkam. Sie ließ das Blatt auf den Tisch segeln, setzte sich, griff nach einem Messer und einer Möhre.
    »Er möchte, dass ich nach Hause komme.«
    »Verstehe«, sagte Mamá mit leise bebender Stimme.
    »Aber nicht direkt nach Hause. Er schreibt, dass er mit einer Privatschule in England in Kontakt ist. Ich könnte dort ab Herbst zur Schule gehen. Er will dafür aufkommen, schreibt er.«
    »Und Tante Madaline?«, fragte ich.
    »Weg. Mit Elias. Sie sind durchgebrannt.«
    »Und der Film? Was ist damit?«
    Mamá und Thalia tauschten einen Blick und schauten dann gleichzeitig zu mir auf, und ich begriff, dass die beiden längst wussten, was los war.
    * * *
    Eines Morgens im Jahr 2002, über dreißig Jahre später und ungefähr zu der Zeit, als ich mich auf den Umzug von Athen nach Kabul vorbereite, stoße ich in der Zeitung zufällig auf einen Nachruf auf Madaline. Ihr Nachname lautet jetzt Kouris, aber das breite Lachen der alten Frau auf dem Foto ist mir vertraut, und ihre Schönheit ist noch immer nicht ganz verblasst. Im kurzen Text darunter heißt es, dass sie in jungen Jahren Schauspielerin war und zu Beginn der 80er Jahre ihre eigene Theaterkompanie gegründet hat. Diese habe bei den Kritikern in hohem Ansehen gestanden, vor allem in den 90ern dank der lange laufenden Inszenierungen von Eugene O’Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht , Anton Tschechows Möwe und Dimitrios Mpogris Verlobungen . Im Nachruf heißt es, sie sei in Athener Künstlerkreisen für ihre Intelligenz, ihre Wohltätigkeitsarbeit, ihr Stilgefühl, ihre freigiebigen Partys und ihre Bereitschaft bekannt gewesen, die Stücke neuer, unbekannter Dramatiker aufzuführen. Weiter heißt es, sie habe lange gegen ein Lungenemphysem gekämpft, dem sie am Ende erlegen sei. Ein Ehemann oder Kinder, die sie zurücklässt, werden nicht genannt. Außerdem stelle ich erstaunt fest, dass sie hier in Athen über zwei Jahrzehnte nur ein paar Straßen von meinem Haus in Kolonaki entfernt gewohnt hat.
    Ich lasse die Zeitung sinken. Ich empfinde zu meiner Verwunderung eine gewisse Wut auf diese Frau, die ich zuletzt vor über dreißig Jahren gesehen habe. Einen leisen Unmut über den Verlauf, den ihr Leben genommen hat. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass sie ein chaotisches, unstetes Leben führte, mit Pechsträhnen, Zusammenbrüchen, Reue und verzweifelten Affären mit den falschen Männern. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie sich selbst zugrunde gerichtet oder in jenen frühen Tod getrunken hatte, den die Leute gern als tragisch bezeichnen. Ich hatte ihr sogar zugutegehalten, dass sie dies geahnt und Thalia nach Tinos gebracht hatte, um sie vor weiterem Unheil zu bewahren,

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